Das Heiligenbild von Schwanberg

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Das Erbe der Jugendbegegnung mit einem Gemälde in einer weststeirischen Kirche: ein untilgbares Vertrauen in alle Menschen, ja sogar Liebe zu ihnen.

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Das Erbe der Jugendbegegnung mit einem Gemälde in einer weststeirischen Kirche: ein untilgbares Vertrauen in alle Menschen, ja sogar Liebe zu ihnen.

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Die jetzt zumeist dunkle, leere, stille Kirche des verlassenen Kapuzinerklosters von Schwanberg birgt das erste Meisterwerk des steirischen Barockmalers Johann Veit Hauckh, eine "Krönung Mariens, umgeben von Engeln und Heiligen" aus 1709.

Benedikter hatte während seiner Frühkindheit, Kindheit und Jugend allsonntäglich, im Mai und Juni allabendlich, dieses Allerheiligenbild der Schwanberger Kapuzinerkirche vor sich gehabt: Die Mitmenschen in den Kirchenbänken und die weit über hundert vom Hochaltar herunterblickenden Gestalten schossen in seiner Seele zu der Vorstellung einer ineinanderwirkenden Welt zusammen. So wie er die lebenden Kirchgänger nur von ihrem Äußeren, ihren Bewegungen, bevorzugten Sitzplätzen und Gebetshaltungen her kannte und immer wiedererkannte, wusste er damals auch über die Namen oder Lebensgeschichten der gemalten Heiligen vor ihm nichts. Doch immer hatte sich sein kindlicher Blick, sein zutrauliches Gemüt im Betrachten dieser Gesichter gesammelt: Das ernste große Gesicht der schwarzen Dame im Vordergrund mit der Hostie, die große Geste des goldenen Bischofs mit dem hochgehobenen Herzen, der lichtumflossene helle Jüngling mit den niedergeschlagenen Augen neben dem schwarzgekleideten weißbärtigen Greis, im Gespräch mit dem gelbbehemdeten Mönch, dessen Haupthaar kreisrund ausgeschnitten ist.

Der gewaltige rote Engel mit den ausgebreiteten Flügeln, dessen rechter Arm hochgestreckt auf die ganz oben in weiß und blau gekleidete, kniende, verklärt ins Jenseits blickende Frau weist, von der der junge Hans Benedikter bereits wusste, dass es die Heilige Maria ist. Die beiden höchsten Figuren - Gottvater und Gottsohn vor einem golden aufschimmernden Schöpfungslichtschein -, wagte er nicht in den Blick zu nehmen. Dafür studierte der Bub stundenlang die größte Figur des Gemäldes unten im Vordergrund, eine schöne, in ein blaues Kleid mit riesigem rotem Umhang gehüllte Frau auf einem Wagenrad, einen langen grünen Zweig in der herunterhängenden rechten Hand, und die Linke zu einer deutlichen Geste mit mahnendem Zeigefinger erhoben. Am allerschönsten freilich fand Hans ganz unten rechts außen das anmutige, ja, himmlische Gesicht der ihn unverwandt aus dem Bild heraus anblickenden Frau mit hoher Goldbandfrisur und goldenem Halsausschnitt, eine überirdische Schönheit, deren schlanke Hände auf einer Orgel liegen.

Mit den Jahren hatte der junge Benedikter zu fast jeder Gestalt eine vertraute Beziehung gewonnen. Und ganz allmählich, mühelos, waren ihm die Namen und die Leistungen dieser längst Vertrauten zugeflogen, begann er die Sterne und Kelche und Pfeile, Fahnen, Schwerter, Hirtenstäbe, Bücher, Kerzen, Tiere, die zu ihnen gehörten, zu verstehen. Auch außerhalb der Kirche, bei Stall- und Feldarbeit, in der Schule, beim Spiel, begleitete ihn diese vertraute Gemeinschaft überall hin. Und als er aus Schwanberg fortgezogen war, über Deutschlandsberg und Graz nach Wien zu Studium und Fabriksdienst, verlor sich zwar sein frühjugendliches Seelenpersonal aus dem Tagesbewusstsein, doch im Innersten blieben die Botschaft, der menschliche Höchstanspruch, die unverrückbare und tatsächlich über alle Jahrzehnte unverrückt gebliebene Beständigkeit dieser wahrhaft gottvollen Antlitze Benedikters Kraftquelle und Wegweisung. Nicht selten durchaus wider Willen!

Volle Ernstnahme Nein, nicht etwa, dass er bigott wäre. Ein überklarer, jeweils zur nächsten Aufgabe gerichteter Blick, ein Drang zu praktischen Lösungen schwierigster Herausforderungen erfüllte ihn immer. Und ein unbeirrbares, untrübbares Verständnis für alle seine tagtäglichen, sorgenbeladenen Gesprächs- und Arbeitspartner. Nein, überhaupt keine vorschmeckende Frömmigkeit prägte Benedikter, sondern nur eine sonnenklare, alles Unerledigte, Unfertige durchdringende Ernstnahme ausnahmslos aller Menschen, denen er begegnete, aller Menschenschicksale, in die er Einblick gewann, und solche wurden ihm immer und immer wieder geoffenbart ohne sein Zutun - sowie auch volle Ernstnahme aller Wissenschaft und Ordnung, die die Gesellschaft für ihre Bewährung entwickelt hatte.

Diese umfassende, umgreifende ernste Annahme alles Gegebenen war Benedikters Erbe von dem zu seiner Jugendzeit zweihundertdreißigjährigen, jetzt zweihundertneunzigjährigen Allerheiligengemälde Schwanbergs: Ein untilgbares Vertrauen in alle Menschen, ja, sogar Liebe zu ihnen, herbe, berechenbare, unaufdringliche, verlässliche Zuneigung wegen jener überwältigenden Selbstlosigkeit, Selbsteinsätze, Welthingabe, Gottesgehorsamkeit, die alle seine im wandernden Sonnenstrahl und flackerndem Kerzenlicht lebenden Heiligen von Schwanberg ihm für immer geschenkt hatten...

Heute glaubte Benedikter wohl zu wissen, bei aller Hochachtung für die zur Ehre der Altäre Erhobenen, dass abertausende seiner Mitbürger - lebten auch sie in einem Jahrhundert ausschließlich in religiöser Sprache erschlossener Wirklichkeiten - ähnliche, vergleichbare Bewährungen aufzuweisen hätten. Die letzten dreitausend Jahre bis vor dreihundert Jahren boten den Vollendungsgezogenen ein ausschließlich religiöses Universum, das ihre Tugenden spiegeln und beantworten und herausfordern konnte bis zur alles überwindenden, überflügelnden Heiligkeit! Derselbe Augustinus, derselbe Thomas, derselbe Dominikus, derselbe Ignatius, dieselbe Klara, dieselbe Katharina, dieselbe Elisabeth und dieselbe Dorothea würden heute - hineingeboren in eine Welt von Dutzenden zutreffenden Weltverständnissen, Wissenschaftssprachen, Philosophieschulen und Kunstrichtungen - mit derselben Gezogenheit zum Absoluten, zur Selbsthingabe, Eigenopferung, ungeheure Leistungen in unterschiedlichen Disziplinen erbringen, auch menschlich jeweils einmalige, unwiederholbare Wunder der Vereinbarung von Unvereinbarem, des Ausgleichs von Gegensätzlichem, der Synthese entferntester Fachgebiete und vor allem des leidenden Durchstehens unerklärbarer Jahrhundertgreuel und Geistesverirrungen vollbringen - durchaus vergleichbar den persönlichen Überwindungen, den Lebenseinsätzen der Heiligen und Märtyrer, ohne dass es hiefür eine allgemein anerkannte, fraglos gestellte, die Gefolterten bis zum letzten Atemzug tröstende Kanonisierungssprache gäbe.

Kurzum: In Benedikters Vorstellung hatte sich das Schwanbergische Allerheiligenbild - wohlgemerkt fern jeder Blasphemie! Sondern im Gegenteil voll überquellender Gottes- und Nächstenliebe, um es noch einmal in dieser Kategorie zu bezeichnen - ringsum erweitert und nach vorne in die Tiefe endlos weit geöffnet. Die Gestalten mit den hochheiligen Namen in der Bildmitte sind nun von Scharen weltlich namenloser, aber deshalb vor Gott nicht wertloser, jedenfalls ebenbürtiger, gleichwertiger, anerkennungswerter, ja, anbetungswürdiger Menschen umringt, die in der Vielstimmigkeit, unangreifbaren Widersprüchlichkeit des gegenwärtigen Zeitalters gleichgeartete Tugenden vor gänzlich andersartigen Prüfungen geübt haben. Das letzte Jahrhundert hat jeden Anflug von angemaßtem Heldentum, Ichbezug, Selbstübersteigerung, Gottesvereinnahmung, Größensucht gründlich entlarvt und entwertet. Die Berufenen der Gegenwart müssen zwischen diesen Versuchungen hindurch in herbster Genauigkeit, Verhaltenheit, Nüchternheit, belastender und stets belastend bleibender Reinheit eine menschliche Qualität darzuleben versuchen, die in keiner einzigen heute gültigen Disziplin erschöpfend vorgestellt wäre. Der Vollkommenheitsgezogene zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts nach Christus muss seinen Weg in der Art einer Springprozession, jedoch auch noch mit ständig wechselnden Zielen zurücklegen... Und dies im Nebel und willentlich namenlos!

Nicht die Lauen Schon in der Urkirche haben sich die ersten Christen als Heilige angesprochen. Die kirchliche Liturgie bezeichnet ebenfalls alle Gläubigen auch als Heilige. Benedikter hatte so viele ehrliche und büßende Menschen kennengelernt, die sich zwar selbst nicht Gläubige nennen, aber die Bezeichnung Ungläubige von sich weisen würden. Das sind durchaus nicht die biblisch als Laue Denunzierten: Nein, Benedikter anerkannte die schier unlösbare Vorgabe, inmitten dieser Trümmerwüste massivsten Wissenschafts- und Ideologiegefelses nur einen Stein allein als maßgebend anzuerkennen, der noch dazu reichlich Sprünge und Windschliffe aufweist. Nein, vielmehr wäre ein Urteil darüber zu finden, bis zu welchem Abstraktionsgrad, zu welcher Indirektheit, Abgeleitetheit und Fernperspektive die Bindung an den Christus noch jene gültige ist, die einst einmal den Titel Heiliger bewirkt hatte.

Der Text ist ein Abschnitt aus dem Schlussteil des entstehenden Romans "Garanas oder die Litanei", der sich mit Wirtschaftskriminalität befasst.

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