Das Herz auf der Waagschale

19451960198020002020

Ethisches Handeln soll bestmöglich wirken: Die neue soziale Bewegung des effektiven Altruismus sieht Wohltätigkeit als Akt der Vernunft - und als Weg zu mehr Lebenszufriedenheit.

19451960198020002020

Ethisches Handeln soll bestmöglich wirken: Die neue soziale Bewegung des effektiven Altruismus sieht Wohltätigkeit als Akt der Vernunft - und als Weg zu mehr Lebenszufriedenheit.

Werbung
Werbung
Werbung

Wer nach der Lösung eines komplexen Problems sucht, muss heute vor allem eines berücksichtigen: riesige Datenmengen. Und je größer diese sind, umso besser kann man analysieren, Bewertungen vornehmen und Prognosen erstellen - sei es beim Wetter, bei der Wirtschaftslage oder bei der großen Frage, wer heuer Fußball-Europameister werden könnte. Auch die moderne ärztliche Heilkunst beruht auf der Bewertung umfassender Studiendaten, aus der dann Behandlungsleitlinien entstehen. Und selbst im karitativen Engagement greift nun das "rechnerische Denken"(M. Heidegger) um sich: Den Vertretern des effektiven Altruismus etwa reicht es nicht mehr, nur für eine gute Sache zu spenden. Sie wollen auch wissen, wie groß der Effekt ist, den sie mit einem bestimmten Geldbetrag erreichen können. Und mit ihrer Gabe möglichst viel bewirken.

Die Hilfe für Notleidende ist dann nicht nur eine Angelegenheit des Herzens, sondern vielmehr des Verstandes, der kühlen Logik. Hierzu bedarf es einer wissenschaftlichen Haltung, eines "kritisch-rationalen" und "empirisch fundierten Ansatzes", wie es auf der Webseite der Stiftung für Effektiven Altruismus heißt. Nur dann könne sichergestellt werden, im Rahmen begrenzter Ressourcen den größten Nutzen der Hilfeleistung herauszuholen. Solchen Kalkulationen widmet sich etwa die Organisation "Give Well", die Hilfswerke auf ihre Kosteneffektivität hin durchleuchtet. Als eine der "Top Charities" wird dort etwa eine britische Anti-Malaria-Initiative ("Against Malaria Foundation") gelistet, die Moskitonetze an gefährdete Haushalte in Afrika, Asien und Lateinamerika verteilt. Die Reduktion von Kindersterblichkeit und neuen Krankheitsfällen sei hier relativ günstig zu haben.

Mitleid mit Menschen, Tieren und Robotern

Abgesehen von finanziellen Zuwendungen wird aber auch den "Zeitspenden", vor allem einer ethischen Berufswahl, eine große Rolle in der altruistischen Bewegung beigemessen. Die Ideenwelt des effektiven Altruismus geht maßgeblich zurück auf den Philosophen Peter Singer, der sonst aufgrund seiner umstrittenen Thesen zur Sterbehilfe und Tierethik bekannt geworden ist. In seinem neuesten Buch (dt. "Effektiver Altruismus", Suhrkamp-Verlag, erscheint voraussichtlich im April 2016) hat der australische Denker mit den Wiener Wurzeln dafür plädiert, dass die Menschen in den wohlhabenden Ländern der westlichen Welt einen Teil ihres Einkommens an jene Hilfsorganisationen spenden, die sich im Kampf gegen die globale Armut und das Leiden in der Dritten Welt engagieren.

Die Mitglieder im Netzwerk des Effektiven Altruismus etwa haben sich vorgenommen, auf Lebzeiten mindestens zehn Prozent ihres Einkommens zu spenden. Singer selbst gibt laut Spiegel-Interview 30 bis 40 Prozent seines Gehalts. Und der Poker-Weltmeister Martin Jacobson hat einen erklecklichen Teil seines Nettogewinns für wohltätige Zwecke weitergegeben - ein Beispiel, das in vielerlei Hinsicht Schule machen könnte.

Die 2015 gegründete Stiftung für Effektiven Altruismus ist aus der Giordano-Bruno-Stiftung und ihrem naturalistischen Weltbild hervorgegangen. Sie bezweckt, die Lebensqualität "möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen möglichst umfassend zu verbessern." Dieses Statement verweist auf das weite Handlungsfeld der neuen Altruismus-Aktivisten: Es beginnt bei der Weltarmut - über eine Milliarde Menschen sind davon betroffen, täglich sterben rund 20.000 Kinder an deren Folgen -, schließt aber ebenso Tierleid mit ein. Dies beruht auf der Annahme, dass gleiches Leid gleich stark zählt; egal, ob Menschen oder Tiere davon betroffen sind. In die Zukunft gedacht könnte dies bedeuten, und hier erhält der effektive Altruismus eine stark utopische Note, auch ein mögliches künstliches Bewusstsein von Maschinen und Robotern im Hinblick auf deren "Leidfähigkeit" zu berücksichtigen. Die Auseinandersetzung mit Zukunftstechnologien, zuletzt in einem Diskussionspapier zur Künstlichen Intelligenz (2015), zählt daher ebenso zu den Schwerpunkten der Stiftung.

Kritik am effektiven Altruismus

Dass Altruismus nicht mit Verzicht einhergehen muss, sondern eine "Win-Win"-Situation herstellen kann, lässt sich mithilfe der modernen Glücksforschung erklären: Denn psychologische Studien bestätigen die alte Weisheit, wonach freiwillige Gaben meist auch die Geber selbst glücklicher machen. Und das eigene Leben einer sinnvollen Sache zu widmen, sei im Vergleich zum verbreiteten Hedonismus das weitaus bessere Rezept für Lebenszufriedenheit, so ein triftiges Argument des effektiven Altruismus.

"Aus dieser Bewegung kann eine wirkliche soziale Innovation erwachsen", glaubt der deutsche Philosoph Thomas Metzinger, Stiftungsratmitglied der in Basel ansässigen Institution. Aber es gibt auch Kritik am hyper-rationalistischen Ansatz der neuen Altruisten, der aus der Optimierungslogik der modernen kapitalistischen Welt erwächst. Geldspenden allein sind oft unzureichend, um die Welt zu verbessern, sagt der Schweizer Philosoph Francis Cheneval: "Für Armut gibt es auch strukturelle Gründe wie 'Bad Governance' oder Korruption, und diese werden durch Direktspenden nicht aus der Welt geschafft." Überhaupt könne der Fokus auf Geldspenden dazu verleiten, ethische Anliegen nur noch eindimensional zu quantifizieren. Und die strenge Orientierung am Nützlichkeitsprinzip und der Glücksmaximierung könne leicht fundamentalistische Züge bekommen. Zudem tun sich viele Fragen auf: Soll man etwa zwecks Spendenmaximierung einen Job mit hohem Gehalt anstreben, der aber vielleicht in sich selbst ethisch fragwürdig ist?

Eines jedenfalls steht fest: Helfen ist besser als nicht helfen. Und auch wenn die Not überwältigend erscheint und nur wenigen geholfen werden kann - für diese Menschen haben die Bemühungen einen gewichtigen Unterschied gemacht.

Effektiver Altruismus

Eine Anleitung zum ethischen Leben.

Von Peter Singer.

Suhrkamp, geplantes Erscheinen im April 2016.

240 Seiten, geb., ca. € 25,70

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung