"Das ist kein Staat, sondern Terrorismus"

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Mit Entsetzen verfolgt man gegenwärtig die Bilder und Nachrichten vom Terror und der brutalen Verfolgung von religiösen Minderheiten durch die Gruppierung, die sich selbst als "Islamischer Staat"(IS) bezeichnet, in Teilen des Irak und Syriens und die dadurch ausgelöste Massenflucht von Christen und Jesiden. Eine drängende und wichtige Frage ist: Wie steht der muslimische Mainstream in den verschiedenen Ländern zu diesen Vorgängen und zum IS? Wie stehen wichtige muslimische Organisationen weltweit dazu? In den westlichen Medien hört man kaum etwas von einer massiven muslimischen Kritik und klaren Verurteilung des IS. Das Schweigen führender muslimischer Persönlichkeiten und Organisationen könnte Befürchtungen wecken oder bestätigen, dass es insgeheim Sympathien mit dem radikalen Vorgehen der IS-Miliz gibt, eine "islamische Ordnung" nach ihrer Vorstellung mit brutaler Gewalt durchzusetzen, oder zumindest eine unsichere Haltung dazu. Und es würde das bereits tief sitzende Misstrauen der westlichen Gesellschaften gegenüber dem Islam verstärken und Wasser auf die Mühlen islamfeindlicher Positionen sein, die genau wissen, dass Islam an sich, seinem Wesen nach totalitär sei.

Von daher erscheint es als wesentlich, die Reaktionen innerhalb der islamischen Welt zu sondieren und erste Einschätzungen zu versuchen. Tatsächlich haben sich bereits mehrere wichtige Organisationen mit sehr klaren, eindeutigen Verurteilungen des Terrors des "IS" öffentlich zu Wort gemeldet - eine Tatsache, die in der Berichterstattung in den westlichen Leitmedien wenig berücksichtigt wird.

"Nicht tolerierbare Verbrechen"

In einer öffentlichen Erklärung vom 21. Juli verurteilte Iyad Ameen Madani, Generalsekretär der "Organisation for Islamic Cooperation"(OIC), die 57 Länder repräsentiert, die "erzwungene Deportation unter der Drohung der Exekution" von Christen in Mosul und Niniveh durch die "terroristische Organisation" ISIS. Es handle sich um ein "Verbrechen, das nicht toleriert werden kann." Das OIC erklärte weiters, "dass die Praktiken von ISIS nichts zu tun haben mit dem Islam und seinen Prinzipien, die Gerechtigkeit, Freundlichkeit, Fairness, Religionsfreiheit und Koexistenz fordern."

Die pakistanische Zeitung Dawn zitierte am 5. Juli den Vizerektor der al-Azhar-Universität in Kairo, der höchsten Autorität im sunnitischen Islam, Scheich Abbas Abdullah Shuman, der die Gruppierung "Islamischer Staat" explizit verurteilte: "Das islamische Kalifat kann nicht mit Gewalt wiederhergestellt werden. Die Besetzung eines Landes und die Tötung der halben Bevölkerung -das ist kein islamischer Staat, das ist Terrorismus."

In Indonesien bezeichneten führende Vertreter der beiden größten muslimischen Organisationen -"Nahdlatul Ulama"(NU) und "Muhammadiyah", die zusammen rund 60 Millionen Muslime vertreten -die Gruppierung "IS" als im Gegensatz zum Islam. Der Vorsitzende des Exekutivrats der NU, Slamet Effendy Yusuf, rief die Muslime auf, die gewalttätige Bewegung auf keinen Fall zu unterstützen: "Es geht nicht um ein Kalifat, sondern um (eine Gruppe), die für ihre eigene Sache arbeitet." Der Vorsitzende der NU, Said Aqil Siroj, rief am 8. August die indonesische Regierung auf, entschlossene Maßnahmen gegen "IS" zu setzen.

In Großbritannien haben mehrere führende muslimische Organisationen -darunter "Muslim Council of Great Britain","British Muslim Forum" und "Mosque and Imam National Advisory Board" - eine gemeinsame Stellungnahme gegen den IS unterzeichnet und Anfang Juli vor dem Westminster-Palast in London veröffentlicht. Darin verurteilen sie die "barbarische Gewalt und Zerstörung" durch den IS. Gleichzeitig wurde ein offener Brief von mehr als 100 britischen Imamen aller theologischen Richtungen unterzeichnet, in dem sie gemeinsam an die britischen Muslime appellieren, sich den Bemühungen der Extremisten, junge Muslime in die Kampfgebiete zu locken, zu widersetzen, und nicht sektarischen Trennungen zum Opfer zu fallen. Ebenso wurde ein Online-Video mit einer Botschaft von vier britischen Imamen erstellt, um der Online-Propaganda des "IS" etwas entgegenzusetzen.

In den USA hat der größte und älteste muslimische Dachverband, die "Islamic Society of North America" am 9. August 2014 öffentlich Stellung genommen und "verurteilt die "terroristische Gruppe namens Islamic State of Iraq and Sham (ISIS) wegen ihrer Angriffe auf die religiösen Minderheiten im Irak". Diese "verletzen die koranische Doktrin 'Kein Zwang im Glauben' (Koran 2,256)."

Ebenso hat der "Council of American-Islamic Relations"(CAIR) in Washington die Gewalt des "IS" in einer Erklärung vom 7. Juli 2014 verurteilt: "Amerikanische Muslime betrachten die Handlungen von ISIS als unislamisch und moralisch abscheulich".

Das illegitime Kalifat

Führende sunnitische Rechtsgelehrte betrachten die Ausrufung des Kalifats durch den "IS" als illegitim und gegenstandslos. So hat beispielsweise die "International Union of Muslim Scholars" unter ihrem Vorsitzenden Yusuf al-Qaradawi, einem der einflussreichsten sunnitischen Theologen, am 4. Juli eine Erklärung verabschiedet, in der zwar am Konzept des Kalifats prinzipiell festgehalten wird, zugleich die Ausrufung des Kalifats durch den IS als "null und nichtig" charakterisiert wird. Die entsprechende Deklaration des IS "vermisse jeden realistischen oder legitimen Standard". Das Dokument setzt fort: "Die bloße Ankündigung reicht nicht, um ein Kalifat einzurichten." Vielmehr bedürfe die Einsetzung eines Kalifen als Repräsentanten der Ummah einer vorhergehenden Konsultation und könne nicht auf Zwang basieren. Die Verbindung des Konzepts des Kalifats mit einer als extremistisch bekannten Organisation diene nicht dem Islam.

Der Präsident des Diyanet, des Amts für religiöse Angelegenheiten des türkischen Staats, Mehmet Görmez, stellte bei einer Konferenz der World Islamic Scholars Initiative zum Thema "Peace, Moderation and Common Sense" zur Ausrufung des Kalifats durch den "IS" fest: "Solche Deklarationen haben keinerlei Legitimität." Die Morddrohungen gegen Christen stellten eine Gefahr für die Zivilisation dar. "Eine Entität, der jede rechtliche Begründung fehlt, besitzt keine Autorität, einer politischen Versammlung, irgendeinem Land oder einer Gemeinschaft den Krieg zu erklären."

Im Kontext der Krise im Irak, deren Auswirkungen global sind, ist es wichtig zu differenzieren und genau hinzusehen: Die Konfliktlinien verlaufen nicht einfach zwischen dem Islam und dem Westen, wie es das Modell von Huntington in den 90er-Jahren voraussagte, sondern zwischen extremistischen, radikalisierten islamischen Gruppierungen und der Mehrheit in den Gesellschaften und Religionsgemeinschaften, die an den Prinzipien einer Kultur der Toleranz festhalten.

Gerade bei den Stellungnahmen muslimischer Organisationen spürt man die Sorge, dass die Propaganda des "IS", vor allem über die sozialen Medien, weitere Muslime anziehen könnte, und dass das mörderische Vorgehen des "IS" gegen Schiiten und Jesiden die innermuslimischen Spaltungen auch in anderen Weltgegenden vertieft und das Zusammenleben gefährdet.

| Der Autor ist Religionswissenschafter sowie Verfasser des Buchs "Moscheebaukonflikte in Österreich"(Göttingen 2013) |

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