Das ist meine kleine Welt

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Mit Jules Massenets "Werther" hat der "Klangbogen Wien" einen Bombenerfolg gelandet.

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Mit Jules Massenets "Werther" hat der "Klangbogen Wien" einen Bombenerfolg gelandet.

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Jules Massenet gilt in den Augen mancher Musikfreunde als oberflächlicher Komponist, der hauptsächlich liebliche Melodien zu Papier brachte. Bertrand de Billy, Chefdirigent des Gran Teatro del Liceu in Barcelona, ist da anderer Meinung. Schon voriges Jahr erntete er beim "Osterklang" in Wien viel Beifall für sein Ansinnen, den französischen Komponisten mit einer szenischen Aufführung seines Oratoriums "Marie Magdeleine" zu "rehabilitieren". Beim diesjährigen "Klangbogen" dirigierte de Billy im Theater an der Wien "Werther", Massenets 1892 in Wien uraufgeführte Oper nach Goethes berühmtem Briefroman. Dabei konnte er die Vorbehalte gegen Massenet nicht widerlegen, sondern - noch besser - deren Irrelevanz aufzeigen. Eine Oberfläche muss nämlich nicht unbedingt glatt sein, sondern kann mittels feiner Strukturierung fehlende Tiefe durch kunstvolle Schattierungen wettmachen - das gilt auch für Musik. Mit höchster Präzision, dezenter Farbenpracht und größter Zurückhaltung, was vermeintlich billige Effekte betrifft, ließ de Billy das herausragende Radio Symphonieorchester Wien ein schillerndes musikalisches Gebilde errichten, das durch Oberflächenspannung und nicht von in den Grund gerammten Stützen zusammengehalten wird.

Es ist nicht de Billys Meisterleistung allein, die "Werther" zur mit Abstand besten "Klangbogen"-Produktion der letzten vier Jahre macht. Hinzu kommen eine exzellente Besetzung, eine ausgezeichnete Regie und ein erstklassiges Bühnenbild.

Marcello Giordani wird in der Titelpartie seinem Ruf gerecht, einer der führenden romantischen Tenöre im italienischen und französischen Fach zu sein. Famos zeichnet er einen Werther, der gewissermaßen das Wesen der Oper widerspiegelt: klanglich von strahlender Schönheit, aber ohne akustische Einblicke in sein Innerstes. Jennifer Larmore kann nicht verbergen, dass sie eine begnadete Belcanto-Spezialistin ist. Mit herrlichem Vibrato und italienischem Schmelz verleiht sie ihrer Charlotte mehr Gefühl, als dem braven Bürgerstöchterchen vielleicht zugedacht ist. Gut so! Auch Patricia Petibon, die vor kurzem an der Wiener Staatsoper als Olympia in "Hoffmanns Erzählungen" debütierte, lässt als Charlottes jüngere Schwester Sophie mit ihren lebhaften und treffsicheren Höhen aufhorchen.

Massenets Oper unterscheidet sich stark von Goethes Sturm und Drang-Werk "Die Leiden des jungen Werther" aus dem Jahr 1774. Beide Male geht es zwar um die Geschichte eines jungen Mannes, der Selbstmord begeht, nachdem seine Geliebte wegen eines am Totenbett der Mutter gegebenen Versprechens jemanden anderen heiraten muss, aber bei Goethe ringt das aufstrebende Bürgertum mit seiner Weltsicht noch um Anerkennung, während das Libretto von "Werther" ein etabliertes, schon moralisch verkommenes Kleinbürgertum beschreibt. "Das ist meine kleine Welt", lautet der Kleingeister Motto, die es sich voller Selbstzufriedenheit in einem kleinen Eck der einfachen, aber genialen Bühne von Johannes Leiacker gemütlich gemacht haben: in der guten Stube, wo die Panoramatapete Heimeligkeit suggeriert.

Hinter der Biedermann-Fassade von Le Bailli (William Powers), Johann (Wolfgang Bankl) und Schmidt (Ernst Dieter Suttheimer) verbergen sich rohe und lieblose Männer. Le Baillis Kinder werden vom Vater und seinen Kumpanen wie Vieh behandelt, sie werden begrabscht, die klare, bis ins kleinste Detail schlüssige Regie Guy Joostens deutet auch Gewalt und sexuellen Mißbrauch an. Diese Sitten gehen nahtlos von Alt auf Jung über: Sobald Charlotte mit Albert (Martin Ganter) verheiratet ist, tritt der zu Beginn noch Bemühte in die Fußstapfen des tyrannischen Vaters.

Außerhalb der kleinen Welt des Kleinbürgertums, unsichtbar für dessen Bewohner, tut sich eine andere, eine weite, grenzenlose Welt auf - Werthers Welt. Der weiße, kalte Raum, der den Großteil der Bühne ausmacht, verspricht Freiheit, aber bietet keine Geborgenheit. Erst aus Sehnsucht danach begibt sich der melancholische Schöngeist in die kleinkarierte Spießerwelt - und wird von dieser zu Grunde gerichtet. Nachdem sich Werther wegen seiner aussichtslosen Liebe zu Charlotte eine Kugel in den Kopf gejagt hat, bricht auch diese aus ihrer Welt aus und tritt hinaus ins Weiß. Sie kommt gerade noch rechtzeitig, um den Geliebten in ihren Armen sterben zu sehen. Bevor der Vorhang fällt, stürzt auch noch Sophie auf die Bühne. Können die beiden in einer Welt bestehen, in der es zwar keine gesellschaftlichen Fesseln, aber auch keinen Trost gibt?Sie müssen.

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