Das Jahrhundert der Angst

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Der russische Autor Daniil Granin schreibt über das Gefühl, das die geistigen Impulse erstickte und die Charaktere verbog.

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Der russische Autor Daniil Granin schreibt über das Gefühl, das die geistigen Impulse erstickte und die Charaktere verbog.

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Wie verhält sich der Mensch unter dem Terror der Angst, wie reagiert er als kaum ausgebildeter Soldat auf die Todesgefahr, wie beim langsamen Verhungern im eingeschlossenen Leningrad, wie unter dem Druck eines Apparats, der keine freie Meinungsäußerung zuläßt und die Menschen systematisch zu Verrätern macht? Die Auseinandersetzung mit der eigenen Angst, die "Abrechnung mit diesem Gefühl", ist Inhalt des jüngsten Buches von Daniil Granin. Er war prädestiniert, es zu schreiben: "Seit meiner Kindheit betrachtete ich gern Bilder von Bosch und Michelangelo, die anschaulichen Einzelheiten dessen, was die Sünder erwartet. Das Paradies mit seiner Glückseligkeit war klar und eigentlich langweilig." Und er zitiert einen Satz von Sartre: "Wer an einen Abgrund tritt, fürchtet nicht, daß er hineinfallen, sondern daß er sich hinunterstürzen könnte."

Für die Abgründe, von denen Granin spricht, trifft dies nicht zu. Er ist einer der wenigen Autoren, die in der Sowjetunion populär waren und es nach ihrem Zusammenbruch blieben, einer der wenigen mit unbeschädigter Reputation. Er wurde 1919 in Kursk geboren, wurde als Talent gefördert, war zu Stalins Zeiten kein Selbstmörder, geriet aber in der späten Sowjetunion als selbständig Denkender immer wieder in Konflikt mit der Macht und der von ihr diktierten Kulturpolitik, wurde in einem System des allgegenwärtigen Anpassungsdrucks alt, ohne zu zerbrechen - all dies würde genügen, sich für ihn zu interessieren und ihn zu lesen.

Sein jüngstes Buch aber, mit dem er fortsetzt, was er einst mit dem Leningrader "Blockadebuch" begonnen hat, erfüllt alle Voraussetzungen, ein klassisches Werk über die Schriftsteller in der poststalinistischen Sowjetunion zu werden, und ist dabei eine spannende Lektüre. Es handelt von der Überwindung der Angst durch Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, durch Selbstachtung und Liebe, man könnte auch sagen: durch Integrität. Ziemlich am Anfang steht ein Gespräch mit einem echten Typ der Zeit, der einst zwar nur dritter Sekretär des Gebietskomitees war, "aber doch ein großer Natschalnik, was hieß: Dienstwagen, Direkttelefon zum Kreml und viel Macht. Er hieß Fjodor Alexejewitsch. In seinem neuen Leben hatte er sich einen Bart wachsen lassen und trug ein Kreuz um den Hals."

Die Rede ist von einem Haus, in dem stets noch zu später Nachtstunde Fenster erleuchtet waren, um das selbst die Kinder einen Bogen machten und von dem es hieß: "Die fangen Spione". Fjodor Alexejewitsch hatte mit der Geheimpolizei nicht direkt zu tun, aber er weiß genau: "Wir wußten: Sie erzeugen Angst. Und wir nutzten ihr Produkt. Filialen der Angst arbeiteten im ganzen Land. Sie wachten auch über uns. Die Angst war da, und mit Angst regiert es sich leichter. Womit kann man heute jemanden einschüchtern? Mit nichts! Die Leute haben keine Angst mehr. Das ist schlimm."

Man könnte Granins Buch auch eine Phänomenologie der Angst nennen, doch die animalischen Ängste, Urängste, spielen eher eine Nebenrolle: Das Grauen des jungen Granin Anfang Juli 1941 auf einem von deutschen Fliegern angegriffenen Bahnhof. Die jungen Männer lernen, mit ihrer Angst umzugehen, sie werden schlagartig zu Soldaten. "Wir sahen, daß unsere Kugeln und Granaten den Gegner ebenso trafen und daß die deutschen Soldaten auch schrien, litten und starben." Mit der Untersuchung der Angst im belagerten Leningrad nähert er sich dem Zentrum des Problems. Hier korrigiert er Dostojewskis Schluß, wenn es keinen Gott gebe, sei alles erlaubt: "Die Religion war in der Sowjetunion aus dem Leben verdrängt worden. Leningrad galt in dieser Hinsicht als besonders ,fortschrittlich'. Dennoch zeigten die Leningrader trotz Hunger, Artilleriebeschuß und eisiger Kälte, kurz unter den schlimmsten Bedingungen, in der Regel Mitgefühl und hohe Opferbereitschaft. Die Menschen halfen einander aus letzter Kraft. Brach jemand vor Hunger auf der Straße zusammen, so hoben andere ihn auf, brachten ihn nach Hause, gaben ihm heißes Wasser zu trinken, teilten ihre letzten Brotkrumen mit ihm... Auf dem Weg zum Tod wuchsen andere Ängste, zum Beispiel die Angst, die Brotkarten zu verlieren. Die Angst, seine Kinder, seine Eltern allein zu lassen, ohne Hilfe - wer würde für sie Wasser holen, den Ofen heizen? Wir entdeckten ein erstaunliches Gesetz der Blockadestadt: Es überlebte, wer anderen half zu überleben. Das heißt, zum größten Teil überlebten gerade diese Menschen ... Viele von ihnen starben dennoch, aber sie starben, ohne zu entmenschlichen, sie lebten aus letzter Kraft, allen Gesetzen der Bioenergetik zum Trotz."

Granin beschäftigt sich mit Seneca, Tolstoj, Stefan Zweig, Sokrates und dem von Stalin genau gelesenen Machiavelli, mit dem Schweigen der Frontkämpfer, der Schriftsteller, alle "hoben bei Abstimmungen zusammen mit allen anderen brav die Hand," bekennt: "Ich verhielt mich genauso. Keinen Deut besser ... An der Front war ich nie feige gewesen, hier aber, im friedlichen Alltag, wo es nicht um Leben und Tod ging, hatte ich Angst. Warum? fragte ich mich. Fragte auch andere. Was droht uns denn? Bestimmt nichts Schlimmes, erschießen wird uns keiner. Nein, Logik half nicht... Sie, die noch vor kurzem kühn zum Angriff gestürmt waren, schlichen nun furchtsam auf irgendein Podium und stammelten dort etwas gegen ihr Gewissen."

Er beschreibt die Abkanzelung Simonows durch Chruschtschow - wegen des Abdrucks einer Erzählung von ihm, Granin. Die Sinnlosigkeit jedes Widerstandes, wenn niemand davon erfährt. Den Verfolgungswahn von Dichtern, die nach Spitalsaufenthalten glaubten, man habe ihnen ein Mikrofon in die Bauchdecke eingepflanzt. Dabei war die Geheimpolizei nur im Erzeugen von Angst wirklich effizient. Ein Höhepunkt ist der Auftritt Michail Sostschenkos bei der Vollversammlung des Schriftstellerverbandes im Juni 1954. Sostschenko weist die an ihm geübte Kritik zurück - wissend, daß er sich damit zur Unperson macht. Eine erschütternde Szene, damals ohne Widerhall, und doch weit über den Sowjet-Untergang hinauswirkend. Niemand erinnert sich, was Sostschenko wirklich gesagt hat. Bis Granin ein gegen ausdrückliches Verbot zurückbehaltenes Stenogramm zugespielt wird. Notiz der Sekretärin: "Verzeihen Sie, daß die Mitschrift stellenweise ungenau ist, ich war damals sehr erregt, und die Tränen behinderten mich." Keine Unterschrift.

Ein großes Buch. Doch irrt, wer meint, es handle nur von Angst und Schweigen in Diktaturen. Unsere Ängste sind diskreter: Karriere und Arbeitsplatz flüstert der innere Schweinehund. Aber das Verdrängen der Wirklichkeit rächt sich immer.

Das Jahrhundert der Angst Erinnerungen von Daniil Granin, Übersetzung: Ganna-Maria Braungardt, Volk und Welt Verlag, Berlin 1999, 152 Seiten, geb., öS 204,-/e 14,82

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