Das klingende Gedächtnis

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Im Österreichischen Phonogrammarchiv in der Wiener Liebiggasse werden über 50.000 Tondokumente aufbewahrt.

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Im Österreichischen Phonogrammarchiv in der Wiener Liebiggasse werden über 50.000 Tondokumente aufbewahrt.

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Vor dem Archivar sind alle gleich: singende Fische, Tiroler Auswanderer in Peru und Kaiser Franz Joseph. Sie werden abgehört, ausgewertet, katalogisiert und archiviert; sie werden restauriert, wenn es sein muss, und schließlich digitalisiert. Einträchtig ruhen sie nebeneinander als Teil des Bestandes des Österreichischen Phonogrammarchivs, die Aufnahmen aus den Jahren 1966, 1989 und 1903. Über 50.000 Tondokumente sind hier archiviert, 7.000 Stunden Gesamtspielzeit. Als klingendes Gedächtnis heimischer und internationaler Kulturen und als tönende Dokumentationszentrale österreichischer Forschung beherbergt das Phonogrammarchiv Wachswalzen und Grammophonplatten, Schellackplatten und Magnetbänder.

Die Bestände inhaltlich zu erschließen und technisch zu sichern ist Hauptaufgabe des Instituts als Teil der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Das Phonogrammarchiv ist jedoch nicht nur institutionalisiertes Gedächtnis für Tonaufnahmen, sondern es ist auch selbst wissenschaftlich tätig. Es unterstützt Forschungsprojekte österreichischer Wissenschaftler, arbeitet mit vergleichbaren Instituten in aller Welt zusammen und hat sich zu einer wichtigen Werkstätte in Sachen Restaurierung historischer Aufnahmen entwickelt.

Begonnen hat alles im April 1899. Lange, bevor "Interdisziplinarität" zu einem Schlagwort wurde, erkannten führende Natur- und Geisteswissenschafter der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften ein gemeinsames Aufgabenfeld und eine Chance. Die neue Technik der Tonaufnahme, der Edison mit seinem Walzen-Phonographen um 1890 die entscheidende Erfindung geliefert hatte, brachte einen unglaublichen Aufschwung in zahlreichen Forschungsdisziplinen, deren wesentliche Quelle der Schall selbst ist. Denn die Forscher waren nicht länger auf Transkriptionen von Musikstücken oder sprachliche Beschreibungen angewiesen.

Der Phonograph, ein schweres, klotziges Ungetüm mit fragiler Wachswalze, ermöglichte erstmals authentische Tonaufnahmen: feinste Stimm-Modulierungen etwa, die genaue Klangfarbe von Dialektvarianten oder Frequenz und Tonhöhe von Balzgesängen - wenn auch mit einem wahren Orchester an Störgeräuschen angereichert. Sprachforscher konnten afrikanische Dialekte, Zoologen die Kommunikation von Tieren in freier Wildbahn und Musikwissenschaftler die Varianten Tiroler Jodelkünste genau festhalten, auswerten und aufbewahren.

"Ewige Bewahrung" Sigmund Exner, berühmter Physiologe an der Universität Wien, erkannte die historische Bedeutung der neuen Technik. Mit Kollegen anderer Forschungsbereiche stellte er den Antrag, ein "phonographisches Archiv" zu gründen, um analog zur wissenschaftlichen Bibliothek eine systematische Dokumentation von Schallaufnahmen zu ermöglichen. Mit ihrem "Ja" legte die kaiserliche Akademie den Grundstein für eine bis heute wegweisende Institution.

"Ewige Bewahrung" der Dokumente war anfängliches Ziel des Institutes. Wiener Techniker entwickelten hierzu den "Wiener Archiv-Phonographen", der die relativ leichte und daher transportable Technik des Edison-Apparates nutzte, die Ton-Information jedoch ähnlich dem Grammophonverfahren auf Platten gravierte. Von diesen Platten konnten Matrizen gebildet werden, so dass die Aufnahmen jederzeit wieder herstellbar waren. Auf zahlreichen Expeditionen bedienten sich zunächst vor allem Ethnologen des historischen Instruments, das laufend weiter entwickelt und verbessert wurde. Sprach- und Musikaufnahmen aus Neuguinea aus den Jahren 1904-1906 oder der keltischen Völker, Gesänge russischer Kriegsgefangener 1915-1917 oder Bibelrezitationen aus Jerusalem 1909-1913 etwa ermöglichten wesentliche Einblicke in die jeweiligen Kulturen.

Rund 3.000 Phonogramme sind so entstanden, ab 1926 zeichnete ein Grammophon im Studio weitere 1.000 Tondokumente auf. Als 1951 die magnetische Tonaufzeichnung die mechanische ablöste, stieg der Bestand des Archivs sprunghaft an. Doch während die Geräte immer leichter und technisch verfeinert wurden, blieb ein Problem - der Zerfall der alten Dokumente. In vielen Fällen ist die Lebensdauer der Original-Tonträger begrenzt, Magnetschichten lösen sich auf oder Bänder oxydieren.

Wo ist die gute Fee?

Ein anderes Problem ist die ständige Weiterentwicklung der Geräte: "Das fachgerechte Abspielen einer Platte aus den 50er Jahren ist schon heute schwer möglich, und schon bald wird das Abspielen von Magnetbändern ein Problem sein", fürchtet Dietrich Schüller, der Leiter des Archivs. Die "ewige Bewahrung" der Tondokumente heißt daher nicht mehr allein, die Originale zu konservieren. Ein Großprojekt wurde gestartet, um die über 50.000 Tondokumente, die in hundert Jahren gesammelt wurden, zu digitalisieren. Der gesamte Bestand soll in einem Massenspeicher dokumentiert und über Datenbanken zugänglich gemacht werden.

Während dieses Projekt nun in zeitaufwendiger Kleinarbeit abgewickelt wird - das Abtasten und Aufnehmen historischer Tonträger dauert oft das Dreifache der einfachen Abspieldauer - steht Schüller vor einer neuen Aufgabe. Ein "großes Abenteuer" ist es für den Hüter der tönenden Historie, wenn bald auch laufende Bilder Einzug halten in der Liebiggasse. Denn nach dem Vorbild der Archivierung akustischer Dokumente sollen jetzt auch Bild- und Videodokumente den Technikern im Phonogrammarchiv anvertraut werden. Und dann hat er noch einen Traum: ein Museum.

Eine solche Schau mit den teilweise schon antiken Aufnahme- und Abspielgeräten oder Tonträgern, ein Überblick über die Forschungsbereiche und Klangbeispiele wäre ein tatsächlich interdisziplinäres Projekt: Zoologie und Soziologie, Ethnologie und Musikwissenschaft, Alltagsgeschichte und Technikgeschichte unter einem Dach. Aber das ist eine andere Geschichte, die eine gute Fee mit viel Geld und geeigneten Räumen erzählen sollte.

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