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Bei den Wiener Festwochen war eine Auswahl an Produktionen des neuen lateinamerikanischen Autorentheaters zu sehen: szenische Erkundungsreisen in die Zeiten von Diktatur und Gewalt.

Wahrheit“ und "Gerechtigkeit“ nennt der chilenische Autor und Regisseur Guillermo Calderón als die beiden wichtigsten Aufgaben des Theaters. Spätestens hier würde man bei europäischen Künstlern nach ironischen Brechungen, einem spöttischen Kommentar oder zumindest nach einem Augenzwinkern suchen. Zuletzt fragte Michael Mautner an dieser Stelle (FURCHE Nr. 22) nach neuen Möglichkeiten das Theater als moralische Anstalt (wieder) zu entdecken und fand diese in den Kabarettprogrammen des Rabenhofs. Moral, politische Haltung und soziales Engagement - so hat man den Eindruck - bedürfen hierzulande der humoristischen Überformung oder zumindest einer gehörigen Portion Sarkasmus, um sich nicht dem Vorwurf der Naivität auszusetzen. Das lateinamerikanische Theater mit seiner jungen, ungestümen Autorengeneration kennt derlei Ausflüchte nicht. Vielmehr sind die eigenen moralischen Werte und die persönliche Betroffenheit in den Arbeiten ständig präsent.

Die Wiener Festwochen zeigen eine Auswahl an Produktionen des neuen latein-amerikanischen Autorentheaters. "La vida después“ ("Das Leben danach“) versammelt Arbeiten, die sich auf die Spuren der jüngsten nationalen Vergangenheit begeben, um dem Leben in der Zeit von Diktatur, Gewalt und Wiederaufbau nachzugehen. In Form eines intensiven biografischen Erzähltheaters zeigen diese Projekte auf ganz unterschiedliche Art und Weise, wie Theater als Ort des sozialen und politischen Gewissens fungieren kann. Im Zentrum stehen Fragen nach dem richtigen Verhalten angesichts verschiedener Krisensituationen.

Persönliches mit Politischem verbunden

Seit den 1990er-Jahren, in denen eine verstärkte (Re-)Demokratisierung in vielen Ländern Lateinamerikas stattfand, sendet die Theater- und Filmszene auch international vielbeachtete Impulse aus. Eine neue Rolle kommt dabei dem Autor zu, der nicht nur schreibt, sondern auch selbst inszeniert. Ausgangspunkt dieser Arbeiten sind genaue Menschenbeobachtungen, die in meist dokumentarischer Erzählform Persönliches mit Politischem verbinden. Die Peruanerin Claudia Llosa, Gewinnerin des Goldenen Bären von 2009, die mehrfach ausgezeichnete Dramatikerin Cecilia Propato aus Argentinien oder der mexikanische Filmemacher Carlos Reygadas Castillo, der heuer wieder bei den Filmfestspielen in Cannes vertreten war, sind einige der Protagonisten dieser neuen Künstlergeneration.

Auch die Argentinierin Lola Arias zählt dazu, an ihr Theaterstück "Mein Leben danach“ von 2009 ist der Titel des diesjährigen Festwochenprogramms angelehnt. In diesem Jahr liefert Arias mit "Melancholie und Protest“ die intimste und berührendste Produktion innerhalb der Reihe. Der erste Teil "Melancholie“ stellt in kurzen Episoden die Lebensgeschichte ihrer an schweren Depressionen leidenden Mutter vor. Nach der Geburt der Tochter im Jahr 1976 fing die Krankheit an. "Meine Schuld?“, fragt Arias - oder war es der Militärputsch desselben Jahres? Eine eindeutige Antwort gibt Arias nicht, vielmehr zeichnet sie das Leben der Familie und die Reaktionen der Umwelt auf die Erkrankung der Mutter nach, nicht ohne auf skurrile Situationen und aberwitzige Erlebnisse zu vergessen. Im zweiten Teil des Stücks verbünden sich die Laiendarsteller aus dem ersten Teil zu einem Chor der zornigen Alten. Eine beeindruckende Demonstration, wie sie Senioren in Buenos Aires tatsächlich jede Woche veranstalten, um höhere Pensionen und eine gerechtere Einkommensverteilung einzufordern.

Der "richtige“ Umgang mit Vergangenheit

Es sind finanzielle Nöte wie diese, die Lateinamerika zum "ungerechten Kontinent“ machen. Im OECD-Vergleich weisen die Länder Südamerikas, allen voran Chile, die höchste soziale Ungleichheit auf. Einen Grund für dieses Missverhältnis sieht der chilenische Autor Calderón im neoliberalen Wirtschaftskonzept seines Landes. In seinen beiden Stücken "Villa + Discurso“ zeigt er einen chorischen Monolog dreier Schauspielerinnen, die verkleidet als ehemalige Präsidentin Michelle Bachelet die Verantwortung für gerechtere Verhältnisse und politische Unzulänglichkeiten von sich weisen.

Calderón wurde 1971 geboren, zwei Jahre vor dem Sturz des Präsidenten Allende ist er, ebenso wie Arias, inmitten der Diktatur aufgewachsen. In "Villa“ sucht er anhand der "Villa Grimaldi“, einem ehemaligen Folterzentrum, nach dem richtigen Umgang mit der Vergangenheit. Drei junge Frauen diskutieren die Zukunft des Geländes, das nach seiner Zerstörung von den Überlebenden zu einem Friedenspark umgestaltet wurde. Soll es so belassen bleiben? Soll es als Mahnmal wiederaufgebaut werden oder soll daraus ein Museum werden? Für alle drei Varianten finden sich gute Gründe, erst zum Schluss geben die Frauen ihr persönliches Verhältnis zu diesem Ort Preis, sie alle sind die Töchter vergewaltigter und verschleppter Opfer der Militärdiktatur.

"Angst, dass wir uns zurückbewegen“

Erfahrungen von Gewalt zeigt auch die mexikanische Gruppe "Lagartijas tiradas al sol“ ("Eidechsen, die sich sonnen“) um Luisa Pardo und Gabino Rodriguez. In ihrem Rechercheprojekt "Die Sprache des Feuers“ erzählen sie die Geschichte der Guerillabewegungen der 1960er und 1970er am Beispiel der Historikerin und Guerillakämpferin Margarita Urias Hermosillo. Im Stil eines Vortrags gehalten, wechseln dokumentarische und spielerische Elemente ab, zusammen ruft das die unmittelbare Vergangenheit Mexikos in Erinnerung. Wie wichtig es ist, vergangenes Unrecht nicht zu vergessen, wird angesichts der bevorstehenden Wahlen im Juli nur allzu deutlich, bei der die ehemalige Einheitspartei PRI, die siebzig Jahre das Land regierte, den aussichtsreichsten Kandidaten stellt. Im Publikumsgespräch bringt Pardo ihre Sorgen über die Zukunft auf den Punkt: "Wir haben Angst, dass wir uns zurückbewegen.“

Eine Abfolge dreier hyperrealistischer Gegenwartsstücke, eingebettet rund um die Wohnanlagen des Meidlinger Kabelwerks, liefert der kolumbianische Autor und Regisseur Jorge Hugo Marín. Eine mörderische Studenten-WG, eine tragische Familienzusammenkunft mit tödlichem Ausgang und eine Geburtstagsfeier für die 15-jährige Tochter eines inhaftierten Drogenbarons bilden die "Familienangelegenheiten“, ein Triptychon aus alltäglichen Gewalterfahrungen. "Wir haben uns an die Gewalt gewöhnt“, meint Marìn, erst der Blick von außen kann die Abgestumpftheit und Resignation in der Bevölkerung durchbrechen.

Es sind solche Konfrontationen mit der Lebensrealität, die die Stärke dieser unprätentiösen und zugleich kraftvollen Inszenierungen ausmachen. "Das ist unsere Welt, wir haben nur diese und wir müssen sie so gestalten, wie wir sie uns vorstellen“, meint die Mexikanerin Pardo. Und auch wenn für Calderón dabei das Scheitern vorherbestimmt ist, kann das Theater am Weg dorthin zumindest Würde und Integrität vermitteln.

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