Das Leben ist SCHAUERLICH

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Das Unheimliche ist mehr als ein literarischer Zug oder ein filmisches Aperçu. Es handelt sich vielmehr um eine urmenschliche Dimension.

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Das Unheimliche ist mehr als ein literarischer Zug oder ein filmisches Aperçu. Es handelt sich vielmehr um eine urmenschliche Dimension.

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Afaint cold fear thrills through my veins: Die blasse kalte Angst, die da in Shakespeares Drama durch Julias Adern kriecht, ob sie ihren Romeo je wieder treffen wird, mag als Urmotiv dessen gelten, was später "Thriller" heißen wird. Bis heute spielt es sich in diesem Genre ab - ob dann als Roman, als Schauspiel oder als Film ausgefaltet: das Abgründige, das Unheimliche, das Böse sind der Stoff, aus dem diese Träume gemacht sind - zur Belustigung, aber auch zur Erbauung und Belehrung des Publikums. Schabernack mit der Wirklichkeit treiben ist eines der Motive, das, wenn es den Leser, Zuschauer, Betrachter an eigene dunkle Erfahrungen erinnert, das Dunkle in den gerade gelebten Augenblick holt, die sprichwörtliche Gänsehaut erzeugt, eben eine faint cold fear aufbaut, die jedenfalls die Wahrnehmung trübt. Und das durchaus gewollt.

Literatur wie visuelle Künste operieren seit jeher mit Abgründen aller Art; auch die gerade ein Jahrhundert alte Kunstgattung Film lebt von und mit dem Unheimlichen. Schon 1915 /20 konnten Paul Wegeners expressionistische Stummfilmadaptionen des jüdischen Golem-Mythos besonders über die Visualisierung ebendieses Unheimlichen reüssieren: ein dunkles Ambiente, enge Gassen, alptraumhaftes Mileu und darin der aus Lehm geformte Golem - eine Gestalt, die Bedrohung und Rettung zugleich ist.

100 Jahre später hat das Unheimliche im Film nichts von seiner Bedeutung verloren: Der eben mit dem Österreichischen Filmpreis prämierte Streifen "Ich seh, Ich seh" von Veronika Franz und Severin Fiala spielt auf derselben Klaviatur, nur die Tonalitäten sind andere. Die Beklemmung verbreitet sich aber dort wie hier: Eine nach einer Operation gesichtsbandagierte Frau lebt mit zwei zehnjährigen Zwillingsbuben irgendwo in der Einöde. Man weiß nichts über die Umstände der Operation oder die Identität der Frau. Diese gibt sich als Mutter der Buben -aber behandelt die beiden Gleichaltrigen ganz ungleich. Und die lieben Kleinen benehmen sich keineswegs lieb -sie applizieren der verhüllten Frau schon einmal Küchenschaben in den Mund oder in den aufgeschnittenen Bauch. Ganz offensichtlich verschwimmen da die Grenzen zwischen Traum und Realität, zwischen Außen- und Innenwelt. Auch wenn das alles ein Fantasieprodukt ist, bestimmt das Unheimliche die Szene wie den Gemütszustand der Betrachter. Natürlich ist das auch Handwerk, aber dieser Film "funktioniert" nur deshalb, weil er imaginierte und wahrgenommene Wirklichkeiten trifft oder abbildet. Das Unheimliche geriert sich als Spiegel der Seele, so wie sich die Frau mit dem eingewickelten Kopf im Spiegel betrachtet, als ob dieser die verhüllenden Bandagen wegzaubern könnte, obwohl der Verband auch im Spiegel vor dem Blick auf die Narben an diesem Kopf schützt.

Projektionsfläche eigener Ängste

"Ich seh, Ich seh" spielt mit der Angst - der Protagonisten ebenso wie der Zuschauer. Auch das ist alles andere als neu: In seinem berühmten Interviewbuch "Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?" aus 1966 bezeichnet der französische Filmemacher François Truffaut den Altvorderen des Unheimlichen im Film als "Künstler der Angst" und nennt Hitchcock diesbezüglich in einem Atemzug mit Literaten wie Franz Kafka, Fjodor Dostojewski und Edgar Allen Poe. "Diese Künstler der Angst", schreibt Truffaut, "bieten uns natürlich keine Lebenshilfe, zu leben erscheint ihnen schwer genug. Aber ihre Mission ist, uns an ihren Ängsten teilhaben zu lassen. Dadurch helfen sie uns, sei es vielleicht auch unbeabsichtigt, uns besser zu verstehen " Dieser Einschätzung ist 50 Jahre später wenig hinzuzufügen. Es ist bis heute evident, dass das Unheimliche auch eine Projektionsfläche eigener Ängste darstellt.

Analoges konstatieren die an der Uni Klagenfurt tätigen Germanistinnen Nicola Mitterer und Hajnalka Nagy: Das Unheimliche sei "immer auch eine Auseinandersetzung mit den erklärlichen und unergründlichen Anteilen unseres eigenen Selbst und der existenziellen Einsamkeit". Mitterer und Nagy sind Herausgeberinnen des Bandes "Zwischen den Worten. Hinter der Welt", der"Wissenschaftliche und didaktische Annäherungen an das Unheimliche" enthält. Die Herausgeberinnen verweisen dort aufs "Märchen von einem der auszog, das Fürchten zu lernen" der Gebrüder Grimm: "Der Protagonist dieses Märchens ist gewillt, das Unheimliche kennenzulernen, und doch scheitern all jene, die ihm, diesem ,unbelehrbaren' Jungen, das Fürchten beibringen wollen." Mitterer und Nagy schließen daraus, dass es auch eine didaktische Aufgabe ist, für das Unheimliche zu sensibilisieren, die "Wahrnehmung auch in Bezug auf das Unerklärliche zu schärfen", weil "andernfalls eine wichtige Dimension des menschlichen Seins gänzlich verschlossen bleibt".

Das Unheimliche ist aber beileibe nicht bloß ein literarischer Zug oder ein filmisches Aperçu. Es handelt sich um eine urmenschliche Dimension, Mitterer und Nagy schreiben, dass "der Erfahrung des Unheimlichen jene des existenziellen Fremdseins in dieser Welt unauslöschlich eingeschrieben" ist. Wenig verwunderlich, dass sich auch die Denker mit dem Unheimlichen beschäftigten. Für Martin Heidegger ist das Unheimliche die "grundlose" Angst vor dem Sein, das, was nicht weiß, wovor es sich fürchtet. Auch Sigmund Freud setzte sich 1919 mit dem Unheimlichen auseinander (vgl. Seite 6 dieser FURCHE), und der Theologe Rudolf Otto analysierte bereits zwei Jahre zuvor in "Das Heilige" die unheimlichen Seiten der Religion.

Die unheimlichen Seiten der Religion

Ottos bahnbrechendes Werk übers Doppelgesicht des Heiligen als Mysterium tremendum et fascinans, als schauervolles und faszinierendes Geheimnis, bleibt auch 99 Jahre nach seinem Erscheinen brisant. Für Otto ist Religion "nicht aus Fürchten, auch nicht aus einer vermeintlichen allgemeinen ,Weltangst'" geboren. Sondern das Unheimliche, der "heilige Schauer" steht an der Wiege der Religion. Auch wenn ein primitiver Dämonenglaube sich "zum Götterglauben erhöht" habe,hättendieGötterimmeretwas "Gespenstisches" behalten, "nämlich den Charakter des ,Unheimlich-furchtbaren', der geradezu mit ihre ,Erhabenheit'" ausmache. Nicht einmal im "reinen Gottesglauben" des Christentums verschwände das Unheimliche, so Otto, es bleibe das "mystische Erschauern". Otto zitiert dazu auch Goethes Faust: Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil. / Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteuere, / Ergriffen fühlt er tief das Ungeheure.

Dazu gibt es gleichfalls ein jüngstes österreichisches Film-Exempel: In Karl Markovics' "Superwelt" (2015) erfährt Gabi Kovanda, eine Supermarktkassiererin mit begrenztem Horizont und äußerst beschaulichem Familien- und Alltagsleben, das Transzendente als einen Einbruch des Unheimlichen in ebendieses. Ihre Umgebung wie das Publikum im Kino dürfen ihr dabei zuschauen, wie sie dieses moderne Mysterium tremendum meistert. In "Superwelt" vergeht dieser Einbruch bei Blitz und Donner. Aber es bleibt etwas zurück, nichts ist im Leben der Gabi Kovanda mehr so, wie es war. Also markiert das Unheimliche hier einen Transformationsprozess: Es fungiert als Katalysator einer existenziellen Wende. Irgendwie unheimlich war leben ja schon immer.

Zwischen den Worten. Hinter der Welt

Wissenschaftliche und didaktische Annäherungen an das Unheimliche. Hg. Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy, Studienverlag 2015. 248 S., kt. € 34,90

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