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Olivier Messiaen war Komponist, Naturliebhaber und Lehrer. Seine Kunst war stets vom Ideal der Schönheit getragen. Am 10. Dezember wäre Messiaen 100 Jahre alt geworden.

Mit seinen kleinen, eigenartig trippelnden Schritten näherte sich der alte Herr den beiden jungen, in animierte Diskussionen vertieften Gestalten - der eine 20-jährig, der andere gar erst 16. In der tristen Umgebung des Konservatoriumsganges nahm sich die behutsam sich fortbewegende Figur des Alten wundersam aus: eingehüllt in einen abgewetzten Mantel, zwei Schals um den Hals gewunden, davon einer in grellen Regenbogenfarben, auf dem weißen Haupt eine verschlissene Pelzkappe, in beiden Händen riesige Aktentaschen. Als er bei den Schülern angelangt war, hielt er inne, blickte sie lange an und sagte schließlich mit sanfter, träumerischer Stimme: "Wie schön ist es doch, jung zu sein. Haben sie ein Glück, jung zu sein!" - und setzte seinen Weg fort. Nie werde ich diese Szene vergessen. Sie ereignete sich im Winter 1977/78 am Pariser Konservatorium. Der alte Herr war Olivier Messiaen, unser geliebter, verehrter Lehrer, und die beiden unversehens aus ihrem Gespräch Gerissenen George Benjamin, heute einer der wichtigsten britischen Komponisten, und der Verfasser dieser Zeilen.

Damals, ich gestehe es und schäme mich dafür, hätte ich es vorgezogen, etwas über unsere vorgelegten Kompositionen zu hören. Jung zu sein ist kein Verdienst - aber wir haben, später, vielleicht erst jetzt, begriffen, daß sich hier nicht nur die Melancholie eines alten Mannes geäußert hat, sondern daß wir in der für Messiaen typischen, liebevoll drängenden Art gemahnt wurden, unsere Jugend und die ihr innewohnenden Kräfte zu nutzen. "Komponieren Sie, zu welcher Stunde immer, wo Sie auch sind - beim Frühstück, in der Metro, beim Spazierengehen." Messiaen liebte die Natur und verabscheute die Stadt, der er zeitlebens fremd geblieben war. Gegen die Häßlichkeit und Vulgarität des Alltags setzte er seine Welt, die von göttlicher Herrlichkeit tönt.

Unerschlossene Klangfarben

In der Musik des 20. Jahrhunderts hat Olivier Messiaen tiefe Spuren hinterlassen, durch sein Werk, das im Repertoire fest verankert ist, wie durch seine jahrzehntelange Lehrtätigkeit, die ihn, wie zuvor (und doch ganz anders) Arnold Schönberg, zu einem wesentlichen Anreger und Erneuerer gemacht hat. Die rasante Entwicklung des rhythmischen Denkens in der Neuen Musik ist ohne ihn nicht vorstellbar, sein Klangsinn hat der Harmonik wie auch der Alchimie der Klangfarben bis dahin unerschlossene Welten eröffnet. Doch ist es bezeichnend, daß die Kunst Messiaens in allem vom Ideal der Schönheit getragen ist. Zwar wurde er nie müde, uns Schüler zu Neuem zu ermutigen, doch sollte das Ohr, also das Sensorium, in dem stets auch das versammelte Wissen und die Erinnerung mitschwingt, immer die oberste Instanz bleiben. Freilich: Schönheit bezeichnet hier (und auch sonst) zugleich das Erhabene, nie jedoch Heimeliges im Diminutiv.

Stil einer spezifischen Sammlerleidenschaft

Das früheste publizierte Werk Messiaens ist die Orgeltranskription eines Teiles eines Orchesterwerkes, das für die Kompositionsklasse von Paul Dukas entstanden war: "Le Banquet céleste" (Das himmlische Gastmahl). Das Stück entstammt der Feder eines 19-Jährigen. Jedesmal, wenn ich es auf mein Pult lege, bin ich davon überwältigt, in welchem Maße hier wesentliche Elemente eines echten Personalstils bereits fast fertig entwickelt sind. Von früher Jugend an hat Messiaen ausprobiert, verworfen und aufbewahrt: unzählige Akkordfolgen, melodische Wendungen, später auch Rhythmen. Sein Stil ist einer spezifischen Sammlerleidenschaft entsprungen - alles, was per se für gut befunden worden war, verfügbar zu halten. Auch uns, seinen Studenten, riet er, solche Kompendien besonders geliebter Elemente einer musikalischen Sprache anzulegen. "Man kann nur komponieren, was man liebt." Nimmt man diesen Satz ernst, so offenbart er die große Kluft, die Messiaen von allen Formen musikalischer Aleatorik oder Stochastik trennte. Für ihn blieb es dabei, auch wenn er der Neuen Musik so viele Impulse gab: Jegliches Werk ist eine präzise Willensäußerung, deren gestaltende Elemente genau gekannt sein müssen, um sie lieben zu können. Heute denke ich, daß dies eine der wichtigsten Lektionen darstellt, die Messiaen uns auf den Weg mitgegeben hat.

Eine andere ist ebenso in meinem Gedächtnis verankert, und sie ist mit seiner Analyse von Ravels "Ma Mère l'Oye" (Meine Mutter, die Gans) verknüpft. Lange hatte er am Klavier der Salle Gounod das weiße Raffinement des letzten Satzes, "Le Jardin féerique" (Der Zaubergarten), erläutert, um schließlich doch festzustellen, daß dem unentrinnbaren Zauber jener so schlicht anmutenden Akkordfolgen mit den Mitteln der Analyse nicht beizukommen sei. Als Messiaen den Unterricht beendet hatte und sich anschickte, seine Noten einzupacken, verharrte er eine kleine Ewigkeit neben dem Klavier stehend und blickte in eine vage Ferne. Dann, endlich, kam jener Satz: "Versuchen Sie, sich immer den Sinn für das Wunderbare zu bewahren." Das Wunderbare - es ist dies vielleicht der für Messiaen entscheidende Begriff. Die völlige Zuversicht seines katholischen Glaubens ruhte auf der überirdischen Schönheit von dessen Verheißungen.

Organist an der Pariser Trinité

Wahrheit und Glorie stehen im Zentrum der Aussage seines Œuvres. Messiaen war kein Mystiker, kein Künder individueller "Offenbarungen" - er war ein im strengen Sinne theologischer Komponist. Es hat mich immer verwundert (und auch erbost), daß die Kirche ihrem größten musikalischen Herold der jüngeren Vergangenheit zwar höfliche Sympathie entgegenbrachte (vor allem, als Messiaens Berühmtheit diese quasi unausweichlich erscheinen ließ), aber eben nicht mehr. Da half auch die Demut nicht, mit der Messiaen von 1931 bis zu seinem Tode im Jahre 1992 das Organistenamt an der Pariser Trinité bekleidete. Doch war das Komponieren für die Liturgie ohnehin nicht seine Sache (nach dem Zweiten Vatikanum sah er ja auch sein liturgisches Orgelspiel drastisch eingeschränkt): Der sanfte Mann scheute sich nicht, die gleißende Stimme seiner Musik in den Konzertsälen der Welt zum Gotteslob zu erheben. Daß er dafür auch Gleichgültigkeit und Hohn geerntet hat, konnte ihn nicht beirren. Er hat es den Selbstbewußten immerhin so schwer wie möglich gemacht - wer die spirituelle Botschaft nicht vernehmen wollte, konnte jedenfalls an der hohen Bedeutung der "reinen Musik" Messiaens nicht vorbei.

Dieses wunderbare Kapitel der Musik- und Geistesgeschichte begann vor hundert Jahren, am 10. Dezember 1908, als Olivier Messiaen in Avignon geboren wurde.

Der Autor ist Komponist, Organist und Intendant des Carinthischen Sommers.

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