Das Psychogramm des klassischen Opfertäters

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Aleksandar Tisma beschreibt in seinem Roman "Kapo", was es bedeutet, wenn der Lagerhäftling zum Mittäter wird.

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Aleksandar Tisma beschreibt in seinem Roman "Kapo", was es bedeutet, wenn der Lagerhäftling zum Mittäter wird.

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Vilko Lamian geht durch das KZ und erreicht nie dessen Grenze, auch nicht den todbringenden elektrischen Stacheldraht, denn Vilko trägt das KZ mit sich, gleichgültig, wohin er geht. Und er kann es nicht abschütteln: "Der Körper ist ein wunderbarer Apparat, das kannte Lamian von seinem eigenen; er kann Pestbeulen und faule Geschwüre überwinden, Wunden verfugen und Eiter verdauen. Nur die Bilder in den Gehirnwindungen kann er nicht verdauen. Sie sind da, und während du im Stimmengewirr eines Cafes sitzt und rauchst, ist das kein Cafe, sondern eine Baracke..."

In Aleksandar Tismas Roman "Kapo" ist das KZ Erinnerung, nur noch Erinnerung, doch dieses "nur" ist keine Verkleinerung der Dimension des Schreckens. Erinnerung kann peinigen, die Luft rauben, die Lust am Weiterleben nehmen. Vilko Lamian, getaufter assimilierter Jude, Überlebender von Jasenovac und Auschwitz, Augenzeuge des Mordens der kroatischen Ustascha, ist Opfer und Täter zugleich. In der Häftlingshierarchie hat er als Kapo überlebt und seine Macht und Vergünstigungen ausgenützt - nicht nur, um zu überleben, sondern auch, um alle seine Bedürfnisse zu befriedigen, er hat sich auch die "Liebe" weiblicher Häftlinge erkauft.

Die Diskussion über die Mikrostruktur der Häftlingsgesellschaft, in der auch Opfer zu Tätern werden konnten, war lange ein Tabuthema. Es ist ein Verdienst des 1924 geborene Tisma, daß er mit dem Psychogramm des Kapos Lamian, der im KZ als Furfa geführt wird, plausibel und ohne zu denunzieren die Schritte vom Opfer zum Täter nachvollzieht. Daß dies so eindringlich und packend gelingt, ist ein Ergebnis der Erzählperspektive. Das Lager ist Erinnerung und Vilko Lamian auf der Suche nach einem Opfer, nach Helena Lifka, der einzigen, an die er sich als Person, als Mensch mit Gesichtszügen, erinnern kann. Wir erinnern die Greuel, ob Opfer oder Leser, daher ist dies der ehrliche Zugang zum Morden, zum Unvorstellbaren. Vilko Lamian geht durch Zagreb und redet mit dem Ex-SS-Mann und Ex-Kommandoführer Riegler, imaginiert Gespräche, und plötzlich befinden wir uns in der Erinnerung des Kapos im Lager. Der Alltag wird zum Stichwortbringer für das Leben davor.

Was wir von der Geschichte des Studenten Vilko erfahren, erlesen wir uns in Wiederholungen, wie die Erinnerung so spielt und funktioniert, zuweilen spiralförmig oder sprunghaft. Fluchtpunkt ist immer Auschwitz. Vor diesem Hintergrund erscheint Vilko, der sich seines "Andersseins", seiner Eltern schämt, der versucht, seine Herkunft zu vertuschen, der die Unterwürfigkeit anderer jüdischer Opfer erkennt und kompensiert. Die Assimilation, der Zweifel an den eigenen Wurzeln, erscheint so als Verlust von Wertmaßstäben, als Voraussetzung für den Weg vom Opfer zum Täter, vom mit eiskaltem Wasser Übergossenen zu einem Häftling, der für seinen SS-Mann Goldkronen aus den Gebissen der Toten bricht.

Moralisieren ist Tisma fremd, Moralisieren bis zur Selbstvernichtung ist der einzige Lebenszweck des ehemaligen Kapos. Die Absolutheit, mit welcher der Autor Auschwitz aus der Perspektive des Kapos erleben läßt, macht Vergleiche mit der realen Welt nach der Befreiung legitim, wenn der alte, unbewegliche und kurzatmige Lamian keinen Unterschied mehr zwischen KZ und Leben sieht, während er mit einer Prostituierten eine Nacht verbringt. "Es war alles dasselbe, Ehe, oder Bar oder Lager, überall wurde Stoff beseitigt, um an die Schlucht heranzukommen, aus der wir hervorgegangen sind und in die wir uns verkriechen möchten und dafür rächen wir uns mit Erpressung und Kauf und Messerschnitten."

Das ist keine vorschnelle Verwendung des Kürzels KZ, das sind die literarischen Maßstäbe, die der Autor für seinen Opfertäter entwirft. Aleksandar Tisma hat mehr als bloß einen weiteren KZ-Roman geschrieben. Mit diesem Psychogramm eines Mannes, der seine Position im Leben nicht gefunden hat und mit der Rolle, die er sich gewählt hat, nicht leben kann, ist dem Autor etwas gelungen, was Wissenschaftler wie Historiker und Soziologen nur unzureichend ausloten können. Das Ergebnis ist große Literatur, die exemplarische Studie eines Opfertäters.

KAPO Roman von Aleksandar Tisma, Hanser Verlag, München 1997, 341 Seiten, geb., öS 329,-

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