Das Trauma der Vergänglichkeit

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Gedanken zum Thema "Zeit" anlässlich der oberösterreichischen Landesausstellung: "Zeit - Mythos Phantom Realität".

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Gedanken zum Thema "Zeit" anlässlich der oberösterreichischen Landesausstellung: "Zeit - Mythos Phantom Realität".

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Mein Blick ist starr auf den Zeiger gerichtet. Nichts als ein lautes Ticken ist zu hören. Nur nicht auf das Bild mit dem Sensenmann blicken, dann könnte etwas Schreckliches geschehen, rede ich mir ein. Wo können sie nur sein? Sie wollten doch nur eine Stunde ins Cafe gehen. Aber eine Stunde muss doch schon längst vergangen sein. Hieß es nicht letzten Sonntag: "Johanna, aber wir bleiben nur eine Stunde im Prater". Wie kurz war doch diese Stunde gewesen. Nicht einmal zwei Ringelspielfahrten waren sich ausgegangen. Das konnte doch nicht dieselbe Stunde sein, von der meine Mutter sprach, als sie versicherte, sofort wieder heimzukommen.

Seit dem traumatischen Kindheitserlebnis, dem scheinbar unendlichen Warten auf die Eltern - die doch nur einen Abend ihre Jugend genießen wollten - sind mehr als 25 Jahre vergangen. Jetzt, während ich diese Zeilen anlässlich der Oberösterreichischen Landesausstellung schreibe, ist es wieder ganz präsent. Die über das ganze Minoritenkloster verteilten Uhren und die vielen Todesdarstellungen haben mir das kindliche Nachdenken über den Zeitbegriff in Erinnerung gerufen. Damals habe ich zum ersten Mal gespürt, dass Zeit keine absolute Größe ist. Natürlich hatte ich noch niemals von Augustinus' radikal modernen Überlegungen zur Zeit gehört und seiner Erkenntnis, daß die Zeit eingebunden sei in die subjektive Befindlichkeit des Menschen. Unbewusst spürte ich in meinem magisch-kindlichen Weltbild einen zweiten Aspekt, der seit jeher eng mit der Reflexion über das Thema Zeit verknüpft ist: Der Zeitbegriff hängt mit unserer Endlichkeit zusammen. Daher habe ich als Mädchen das Memento-mori-Bild mit dem Sensenmann immer vermieden anzusehen, wenn meine Eltern nicht zu Hause waren.

Die Zeit-Thematik hat mich im Laufe der Jahrzehnte immer wieder eingeholt. In erster Linie im Sprachgebrauch. Tagtäglich hört man von Freunden, sie haben "keine Zeit"; "Zeit sei Geld", argumentiert man in Preisverhandlungen. Arbeitskollegen stehen unter "Zeitdruck", die Sekretärin nimmt sich "Zeitausgleich" und mein Onkel kleidet sich so gerne "zeitlos".

Habe ich mich als Kunst- und Literaturhistorikerin gefragt, worin der Unterschied zwischen Literatur und bildender Kunst liege, so bin ich etwa bei Lessing auf das Unterscheidungsmerkmal "Zeitlichkeit" und "Räumlichkeit" gestoßen. In Lessings entscheidendem Aufsatz "Laokoon" zur Grenzbestimmung zwischen Poesie und Malerei, räumt der Autor der Dichtkunst Vorrangstellung ein, da diese in einem zeitlichen Nacheinander Handlungen und Zeitabläufe wiedergeben könne; die Malerei stelle hingegen nur einen Augenblick dar. Lessings bis heute berühmte Thesen und seine Unterscheidung in Raum- und Zeitkunst waren auch im 18. Jahrhundert schon anzweifelbar. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts und Kunstrichtungen wie Futurismus, Dadaismus und später der Aktionskunst oder den "Neuen Medien" haben sie nur mehr eingeschränkte Gültigkeit. Der Zeitbegriff prägt die Arbeit einer Kunsthistorikerin auch insofern entscheidend, da das Erkennen von "Avantgarden" zu einem der entscheidenden Beurteilungskriterien zählt. Cezanne war ein phantastischer Maler. Unter anderem aber auch deshalb, weil er der Kunst seiner Zeit so weit voraus war. Giotto gilt als wunderbarer Kolorist, beeindruckend ist er für uns aber besonders, weil er das Menschenbild der Neuzeit bereits in seinen Darstellungen vorweggenommen hat.

Elementare Frage Wie kann man Zeit künstlerisch wiedergeben? Durch die Darstellung des "circulus anni" hätte der mittelalterliche Mönch vor einem Text-Bild-Blatt vielleicht geantwortet. Durch eine vergängliche Eisskulptur oder durch prozessorientierte Kunst würde die Antwort einer jungen Künstlerin lauten.

Wie oder was kann Zeit überhaupt sein? Kann etwas existieren, das sich nicht festhalten läßt, das ständig entschwindet? Gerüche können wir mit dem Geruchssinn erfassen, Farben mit dem Gesichtssinn, Klänge mit den Ohren. Aber wie nehmen wir die Zeit wahr? Für den Zeitsinn besitzen wir kein eigenes Organ.

Die heurige Landesausstellung Oberösterreichs geht den elementarsten Fragen der menschlichen Existenz unter der konzeptionellen Leitung von Wolfgang Müller-Funk auf den Grund und bereitet die Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven wie "subjektives Zeitempfinden - objektive Zeitmessung", "Zeitwahrnehmung anderer Kulturen" oder "lineare und zyklische Zeit" anschaulich auf. Der Untertitel "Mythos, Phantom, Realität" möchte dabei Augustinus' Meditieren über Zeit als Erinnerung, Gegenwärtigkeit und Erwartung nachstellen. Phantom steht für das "Hirngespinst" Zeit, existiert diese doch nur in unserer Welt der Vorstellung. Mythos sei die Zeit, da sie nur durch die Erzählung zur menschlichen Dimension werden könne. Nur indem Augustinus sein Leben in den "Confessiones" erzählt, setzt er die Zeit für sich in die Welt. Eine gesellschaftliche Realität ist die Zeit zweifelsohne, bestimmt sie doch als alles dominierende Konstante den Ablauf der Zivilisationsgesellschaft.

Der Gang durch die von Ausstellungsarchitekt Hans Hoffer spannend gestaltete Schau und der begleitende Katalog bringen zwar keine radikal neuen Erkenntnisse, regen aber zum Nachdenken und Nachlesen über die Zeit, die Zeitmessung und deren Geschichte an. Dass die Ausstellung gerade im frisch renovierten Minoritenkloster präsentiert wird, ist kein Zufall. Waren doch die Klöster früh Orte, die dem Zeitbegriff im abendländischen Denken durch die fixe Tages- und Gebetsordnung Bedeutung verliehen haben. Seit Benedikt von Nursias Klosterregeln wurde der Sinn klösterlichen Daseins nicht mehr in der bloßen Askese, sondern im fleißigen Arbeiten gesehen. Gerade weil die irdische Zeit als wertlos angesehen wurde, galt es in ihr etwas Bedeutendes zu schaffen, um sie für die "künftige Zeit" zu qualifizieren. So wird das mönchische Leben in ein strenges Zeitschema gegliedert, ab dem 7. Jahrhundert läutet siebenmal täglich die Klosterglocke. Zunächst wurde die Zeit mit Wasser- oder Sonnenuhren gemessen, erst seit dem Ende des 13. Jahrhundert wurde durch den Einbau von Hemmungen in Räderuhren ("Schrittregler") der Grundstein für eine abstrakte Zeitmessung gelegt.

Die Welt als Uhr Vom 14. bis ins 17. Jahrhundert war die Stunde der neue Zeitabschnitt, der das soziale Leben dominierte. Der Grund dafür war, dass im 14. Jahrhundert in Klöstern und Städten Glocke und Uhr gekoppelt wurden. In der großen Umbruchphase vom Hochmittelalter in die Neuzeit begann man von der "Welt als Uhr" zu sprechen. Seit damals wurde die Uhr zum zentralen Modell für geordnete Prozesse. Den Durchbruch zur exakten Zeitmessung und Anzeige in Stunden, Minuten und Sekunden brachte das 17. Jahrhundert und die Erfindung der Pendeluhr. Parallel zur technischen Weiterentwicklung der Zeitmessgeräte wandelte sich der gesellschaftliche Einfluss der Uhren, die wie Robert Levine meinte, dem Menschen im Laufe der Geschichte immer näher kamen, bis zur Erfindung der Armbanduhr im 20. Jahrhundert.

Die Landesausstellung hat mein Kindheitserlebnis wieder wachgerufen, da sie zeigt, dass Zeit trotz hochtechnisierter Messapparaturen letztendlich ungreifbar bleibt. Zu meiner damaligen Erkenntnis kam mittlerweile durch Reisen die Erfahrung hinzu, dass die Relativität des Zeitbegriffs sich nicht nur in subjektiv unterschiedlich lang empfundenen Stunden zeigt. Sie zeigt sich auch im Umgang mit verschiedenen Kulturen und deren jeweiliger Auffassung von Zeit: Wie lange habe ich doch letzten Urlaub in Izmir vor dem Bazar auf den Bus warten müssen, von dem es in der Früh hieß, er käme sofort. Die Stunden bis zur tatsächlichen Ankunft am Abend bei zwanzig Gläsern Tee, Taschen voller Gewürze und zahlreichen Geschichten vergingen jedoch wie im Flug.

Bis 2. November Zeit. Mythos Phantom Realität. Hg. von Wolfgang Müller-Funk. Springer Verlag, Wien 2000, öS 330,-/e 23,98

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