Das Trauma des Weltkriegs

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"Des hätt’ sich der Kraus auch für nach dem Krieg aufheben können, dieser Defaitist …!“, zischte ein Zuhörer und setzte eine grimmige Miene auf. Wir schrieben nicht das Jahr 1919, sondern 1999.

Soeben hatte ich einem österreichisch/deutschen Publikum einige Szenen aus den "Letzten Tagen der Menschheit“ vorgetragen, hatte den volksbeseelten anonymen Wiener von einer Parkbank die Ansprache schlechthin halten lassen: "Wie ein Mann wollen wir uns mit fliehenden Fahnen an das Vaterland anschließen in dera großen Zeit! Sind wir doch umgerungen von lauter Feinden!“

Kann es sein, dachte ich, dass dieses Werk heute noch patriotischen Widerwillen bei jenen auslöst, deren längst verwichene (Ur-)Großväter Ziel der unbestritten messerscharfen und hammerharten Attacken des literarisch hochbewaffneten Pazifisten Karl Kraus gewesen sind - nach so vielen Jahrzehnten?

Es konnte, und es kann. Denn das Trauma eines Weltkriegs apert auch bei Nachgeborenen erst mählich aus …

Patrioten, Nörgler und andere

Ganz Österreich in Patrioten, Nörgler und Abonnenten der Neuen Freien Presse und der Reichspost (der Zeitung des späteren FURCHE-Gründers Friedrich Funder) einzuteilen, hieße nicht nur Kraus fehlinterpretieren, sondern auch den Menschen vor hundert Jahren unrecht tun. Da waren so viele Zwischentöne, und der Mensch als unversehens ins Kriegsgeschehen "Geworfener“ war wohl der Regelfall. Es gab mehr als Hetzer und Täter auf der einen und Opfer und Geschundene auf der anderen Seite. Die meisten waren jene "stillen Dulder“, die Kaiser Karl im berühmten einzigen Tondokument erwähnt, das von ihm existiert.

Den ganzen Umfang der Krisen dieser Zeit konnte ich Nachgeborener erst erahnen, als mir einmal ein alter Wiener, Jahrgang 1911, seine Herkunft aus kleinbürgerlichen Verhältnissen schilderte, und en passant erwähnte, dass sein ältester Bruder im Feld geblieben und der nächstältere 1919 an der Spanischen Grippe gestorben war. So nebenbei. Als sei es die natürlichste Sache der Welt.

Was wird heutzutage gejammert, dachte ich, wenn die wohlständige Jugendzeit nicht aalglatt, linear kindgerecht und von guten Mächten zurechtgeschmirgelt verläuft …! Und die Kinder von 1914/18, als Hunger und Seuchen wüteten? Was hat das kollektive Trauma an ihnen angerichtet? Es hat eine Generation der Härte geschaffen, die dann das weitere 20. Jahrhundert gestaltete, das blutigste in einer Abfolge von ohnehin brutalen Äonen.

Aber hatten nicht auch andere, frühere Kriege die Menschen traumatisiert?

Gewiss, doch die Menschheit war 1914/18 bereits in eine Phase der Aufklärung eingetreten, die es ihr erlaubte, über die eigene Kriegsbarbarei zumindest verblüfft zu sein. Hatten Künstler wie Grimmelshausen im Dreißigjährigen Krieg und Goya für die Napoleonischen Feldzüge noch Gräuel beschrieben, die sie als schrecklich, doch immerhin als nun eben existente Merkmale ihrer Zeit ansahen, so schien im 20. Jahrhundert immer breiter werdenden Schichten das Schlachten absurd.

Entsetzt starrten sie auf ihre zahllosen Verwundungen und reagierten darauf sehr unterschiedlich: Einige wenige wurden zu Pazifisten, die vielen anderen kompensierten die Kränkungen (gerade in den Verliererstaaten) mit noch größerer Brutalität im Denken und im Handeln. Daraus speisten sich dann wieder die Henker der Systeme, die im Zweiten Weltkrieg der alten Welt endgültig den Garaus machten.

Doch zurück zum Start. Wer wollte 1914 denn überhaupt den Krieg?

Wer wollte den Krieg?

Der den Anlass dazu bot, jedenfalls nicht. Zumindest deutet nichts darauf hin. Franz Ferdinand hatte aber auch nicht das Zeug zum Heiligen. Der Bewohner des Belvederes entwickelte sich in seiner fahrigen Art eher zum Abbild seiner zerrissenen Epoche als Erzherzog Karl Franz Joseph, der dann an seiner statt als Kaiser Karl I. die letzten zwei Jahre auf dem Thron absitzen musste.

Letzterer, dynastisch denkend und von schlichter Frömmigkeit, war in seiner Grunddisposition vielleicht der letzte typische, in ätherischer Zeitlosigkeit verharrende Habsburger - ganz im Gegensatz zum bodenständigeren Franz Ferdinand, der sich trotz seiner traditionellen Erziehung zum weihevollen Gottesgnadentum aufbrausend nahm, was er wollte, against all rules eine böhmische Gräfin heiratete, seine Aggressionen mit einem manischen Hang an unschuldigem Wild auf der Jagd abreagierte - und von Männern umgeben war, die teilweise schon die Züge des fatalen weiteren 20. Jahrhunderts trugen: Brutalinskis, die alt-feudale Arroganz mit dem Willen zum modernen, technisierten Krieg vereinten.

Die ihn dann nach dem Tod des Thronfolgers erklärten, nahmen den Krieg zumindest billigend in Kauf. Franz Joseph I. - 1914 noch nicht senil - ließ seine Armee, ganz so wie er es seit 1848 gewohnt war, sehenden Auges in den Waffengang marschieren, Wilhelm II., der dann irgendwann einmal sagte, er "habe es nicht gewollt“, ließ sich von seiner Militärmaschine namens Generalstab gängeln und unterwarf sich ihrem Kriegsdiktat. Der "liebe Willy“ hatte seinem russischen Vetter, dem "liebsten Nicky“, in seinen skurrilen Briefen noch ewige Freundschaft geschworen, doch auch der Zar war von Kriegshetzern umgeben, deren Willen die eitlen Kaiser brav entsprachen. Dass genauso Entente-Politiker wie der französische Staatspräsident Poincaré nach Krieg geradezu lechzten, sei hier nachdrücklich betont.

Mehr oder weniger skrupellos im Opfern ihrer Völker waren die meisten dieser hohen Herren, und nicht ihnen gilt es Lorbeerreiser zu winden, sondern den 70 Millionen Soldaten, die ins Feuer gejagt wurden, und den 17 Millionen Menschen, die am Ende tot waren.

Graus auf Erden

Viele von ihnen hatten zu Beginn ihren Fürsten und Führern zugejubelt, auf einen raschen Sieg gebaut. Die Ernüchterung ließ Karl Kraus sein Alter Ego, den "Nörgler“ kommentieren: "Mit unseren Feinden haben wir nur die Dummheit gemeinsam, einen und denselben Gott für den Ausgang des Kriegs verantwortlich zu machen, statt uns selbst für den Entschluß, ihn zu führen. Was die Staatsmänner der Feinde betrifft, so können sie nicht dümmer sein als die unseren, weil es das in der Natur nicht gibt.“

Der Erste Weltkrieg hat der Menschheit nicht nur den Graus auf Erden beschert und durch das gewaltsame Ende der hundertjährigen Wiener Kongressordnung von 1814/15 den ideologischen "-ismen“ freie Bahn geschaffen, sondern ihr eine Waffentechnik in die Hand gedrückt, die das Weiterwüten zu Lande, zu Wasser und in der Luft noch exzessiver werden ließ.

Der Autor ist Wissenschaftsredakteur beim Radiosender Ö1

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