Das vergessene Lager

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Die Geschichte des größten deutschen Kriegsgefangenenlagers auf österreichischem Boden.

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Die Geschichte des größten deutschen Kriegsgefangenenlagers auf österreichischem Boden.

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Zehntausende alliierte Kriegsgefangene waren zwischen 1939 und 1945 in Lagern der "Donau- und Alpengaue" interniert. Ihr Schicksal wurde noch nicht wissenschaftlich untersucht. Die Grazer Historikerin Barbara Stelzl-Marx hat mit ihrer Dokumentation des Lagers Stalag 17B, des größten Gefangenenkomplexes in unserer Heimat in Gneixendorf nahe von Krems, den überfälligen ersten Schritt zur Aufarbeitung dieses Themas gesetzt.

Stalag 17B ist hierzulande ein Fremdwort. In Amerika gilt dieses Kürzel jedoch als Synonym für Kriegsgefangenenlager schlechthin, nicht zuletzt auch durch den gleichnamigen Hollywoodfilm von Billy Wilder, der auf dem 1951 uraufgeführten Broadwaystück desselben Titels basierte und den Anstoß zu etlichen weiteren Filmen gab. Die Ausläufer reichen bis zu TV-Serien mit Kultstatus wie "Hogans Hero".

Im Stalag 17B waren zeitweise mehr als 60.000 Gefangene interniert. Die Überbelegung spiegelt die Kriegserfolge der deutschen Wehrmacht. Den Polen folgten Franzosen und Belgier und im Anschluss daran Russen und Amerikaner. Daneben befanden sich noch italienische, britische, serbische und griechische Kriegsgefangene im Lager. Zuletzt wurden amerikanische Flieger hierher gebracht, bei der Befreiung waren es rund 4.000 Mann, die im April 1945 in einem mehrtägigen Fußmarsch Richtung Westen verlegt wurden.

Daß die Gefangenschaft nicht für alle gleich schlimm war, zeigt Stelzl mit einer Gegenüberstellung der Sterblichkeit der sowjetischen und amerikanischen Gefangenen. Bei den sowjetischen lag die Todesrate bei 60 Prozent, während die Amerikaner im Stalag 17B nur eine Handvoll Tote beklagten. Zurückzuführen ist dies auf die in tödliche Praxis umgesetzte NS-Rassenpolitik, derzufolge "die Russen" in der Lagerhierarchie als Letzte rangierten, aber natürlich auch auf das Ausbleiben von Lebensmittelpaketen des Roten Kreuzes für diese Gefangenen. "Einen Amerikaner hat man als Menschen angesehen. Bei einem Russen hat man gesagt: ,Na, ist ja ein Ruß'".

Die Überlebenschancen bedingen auch das Bild, das wir heute vom Lagerleben haben. Bis vor wenigen Jahren war dies geprägt durch die amerikanischen Erinnerungen, Bilder und Dokumente. Die Möglichkeiten, zu ihrer Geschichte zu stehen, waren für die sowjetischen Kriegsgefangenen ungleich geringer, galten sie heimgekehrt doch als "Vaterlandsverräter" und mussten mit einer zweiten Verfolgung rechnen. Die Archivsituation tat ein Übriges und half mit, dass diese Schicksale als blinde Flecke unserer Geschichte erscheinen.

Dies kam nicht wenigen Österreichern auch sehr gelegen, denn so blieb ihnen die Auseinandersetzung mit diesen Toten in russischer Uniform, und ihrem Sterben, im Detail erspart. Während russische Gefangene oft nicht einmal einen Bleistift haben durften, konnten die Amerikaner umfangreiche Tagebücher - "Wartime Logs" - führen, in denen nicht selten das Lager von den Zeichnern im Stile von Walt Disney als Comic abgebildet ist und sich persönliche Erinnerungen vom Abschuß des Flugzeugs bis zum Alltag im Lager finden. Im Rahmen von Hilfsprogrammen gelangten bis 1944 2.800 leere Tagebücher in die Hände gefangener Amerikaner im Lager Stalag Luft.

Dies darf jedoch nicht dazu verleiten, den Aufenthalt im Kriegsgefangenenlager zu verharmlosen. Zwar war die Situation der amerikanischen und der sowjetischen Kriegsgefangenen nicht zu vergleichen, Lager blieb jedoch Lager, und die Ungewissheit und Angst, ob man den Tag der Befreiung auch erleben werde, war auch für die Amerikaner groß. In Ansätzen erliegt Stelzl dieser Gefahr der Verharmlosung der Situation der Amerikaner. Sie spiegelt sich in Nebensätzen wider, etwa wenn sie zu den posttraumatischen Syndromen amerikanischer Kriegsgefangener meint: "Nicht zuletzt dürfte das stark verbreitete Bewusstsein der Zeitzeugen etwa um posttraumatische Syndrome primär auf diese Quellen zurückzuführen sein." Mit den Quellen sind die bei ihren Treffen aufliegenden Broschüren und Informationsblätter über gesundheitliche Spätfolgen gemeint. Nur eine etwas unglückliche Formulierung?

Während die Amerikaner im Lager Theater und Basketball spielten, sind wenige Meter davon entfernt sowjetische Gefangene buchstäblich krepiert. Selbstverständlich gab es solche Unterschiede auch für die deutschen Kriegsgefangenen in alliierter Hand. Wer in britische oder US-Gefangenschaft geriet, hatte die besten Überlebenschancen. Von den 100.000 völlig entkräfteten Deutschen, die sich bei extremen Minustemperaturen in Stalingrad ergaben, kehrten 5.000 heim.

Für Amerikaner wie Sowjets waren Kunst und Literatur im Lager Mittel gegen den Lagerkoller und das Schreiben war auch eine Möglichkeit zur Aufrechterhaltung der eigenen Identität. So zum Beispiel für den sowjetischen Kriegsgefangenen Sergej Voropaev: "1. 4. 1944. Heute ist der erste wahre Frühlingstag. Einmal war das die beste Zeit im Leben, die Wiederbelebung der Poesie und der schöpferischen Gefühle. Aber jetzt ist alles anders. Ach, das Leben ist fürchterlich traurig. Man denkt nur an das Fressen. Das Hirn ist sonst mit nichts voll. Der Hunger peinigt. Die Arbeit quält."

Voropaev führte sein Tagebuch bis wenige Wochen vor der Befreiung. Am 5. März 1945 macht er, von Hunger und Tuberkulose gezeichnet, seine letzte Eintragung: "Zum letzten Mal unterhalte ich mich mit diesen Seiten. Ja. Aber ich befinde mich in einem Zustand, wo mich der Tod bereits nicht mehr schreckt, sondern auf der anderen Seite das sein wird, was angenehm besänftigend ist, jene Welt, wo es allen gleich gut und schlecht geht."

Die späte Bereitschaft auch der Betroffenen, ihr Schicksal zu dokumentieren, ließ das erste Treffen amerikanischer "Kriegies" erst 1977 zustandekommen. Die Losung nach Kriegsende lautete, den Krieg zu verdrängen. Diese Haltung beeinflußt auch die Darstellung ihres Lagerlebens durch die Amerikaner. Die Gefangenschaft wird mit der entsprechenden Zeitverzögerung als Fortsetzung des Krieges hinter Stacheldraht gesehen. So lässt sich auch die eigene Rolle glorifizieren beziehungsweise legitimieren.

"Schuldgefühle gegenüber weitaus schlechter behandelten sowjetischen Kriegsgefangenen oder anderen Nationalitäten finden hier keinen Platz" schreibt Stelzl. Waren sie denn daran schuld? Zwar äußert sie sich mit Recht über die amerikanische Erinnerungsliteratur und den "Fliegermythos" kritisch. Merkwürdig wirkt aber, daß sie bei den amerikanischen Bomberpiloten die Auseinandersetzung mit einer offenbar von ihr unterstellten Schuld vermißt: "Militärische Einsätze in der Luft werden als Pflichterfüllung interpretiert und erfahren eine Mythologisierung als Kampf für Freiheit und gegen den Nationalsozialismus". Was anderes war aber denn der Bombenkrieg? War er nicht Teil des Kampfes gegen ein mörderisches Regime, das den Krieg vom Zaun gebrochen hatte? Führten die Piloten etwa einen Angriffskrieg gegen deutsche Zivilisten?

Daß Stelzl-Marx nicht nur US-Quellen auswerten konnte, sondern auch auf russische Tagebücher, Aufzeichnungen und Filme zurückgriff, was erst durch die Öffnung der russischen Archive möglich wurde, macht ihre Arbeit so wichtig. Dadurch konnte ein Gesamtbild entstehen.

Zwischen Fiktion und Zeitzeugenschaft. Amerikanische und sowjetische Kriegsgefangene im Stalag XVIIB Krems-Gneixendorf. Von Barbara Stelzl-Marx. Gunter Narr Verlag, Tübingen 2000. 331 Seiten, brosch., öS 701,-/e 50,94

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