Lesen - © Foto: Pixabay

Das Vorlesen bleibt unverzichtbar

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Kinderliteraturexperte Ernst Seibert im FURCHE-Gespräch.

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Kinderliteraturexperte Ernst Seibert im FURCHE-Gespräch.

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Immer weniger Verlage bringen immer weniger Neuerscheinungen heraus, in der medialen Berichterstattung ist das Thema kaum wahrnehmbar, die wissenschaftliche Auseinandersetzung steht erst am Beginn: Die Kinderliteratur lebt hierzulande ein Schattendasein, wenn man von den Kinderliteraturtagen absieht, die vor kurzem in Wien stattfanden. Der Germanist Ernst Seibert gilt als einer der wenigen Wissenschaftler, die sich seit Jahrzehnten mit der österreichischen Kinder- und Jugendbuchliteratur beschäftigen. Einen guten Überblick bietet sein Buch "Geschichte der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur von 1800 bis zur Gegenwart" (1997; Verlag Buchkultur; Mitherausgeber: Hans-Heino Ewers)

Die Furche: Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern wird in Österreich die Kinder- und Jugendliteratur in der öffentlichen Wahrnehmung stiefmütterlich behandelt. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Ernst Seibert: Man muss da unterscheiden: Zum einen gibt es im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur seit Jahrzehnten sehr engagierte Einrichtungen wie den Buchklub der Jugend und diverse Beratungsstellen, zum anderen ist aber festzustellen, dass sich diese durch ihren traditionell pädagogischen Zugang in einer gewissen hermetischen Situation gegenüber dem gesamten Kulturgeschehen befinden. In Deutschland oder Skandinavien etwa wird Kinderliteratur auf mehreren Ebenen, Journalismus, Feuilleton, Theater, Film und in der Wissenschaft gleichzeitig wahrgenommen.

Die Furche: Die Kinderliteratur scheint ja in Skandinavien auch auf weit stärkeren Füßen zu stehen.

Seibert: Das ist nicht zuletzt in der protestantischen Kulturauffassung begründet, die in höherem Maße eine Lesekultur ist. Man sieht das aber auch in den dortigen öffentlichen Bibliotheken, wo die Kinderliteratur nicht als Stiefkind behandelt wird, und die Kinderbuchautoren auf weit größeres gesellschaftliches Interesse stoßen.

Die Furche: Und welche Stellung haben die heimischen Kinderbuchautoren unter den Schriftstellern?

Seibert: Selbstverständlich wären da viele Namen zu nennen; ich erwähne nur die besonders preisgekrönten Vera Ferra-Mikura, Mira Lobe, Käthe Recheis, Christine Nöstlinger, Lene Mayer-Skumanz, Renate Welsh, Ernst A. Ekker, Wolf Harranth, Lisbeth Zwerger, Monika Pelz und Heinz Janisch. Auf breiterer Ebene lässt sich sagen, dass sich nach 1945 mit der Gründung der Institutionen eine Abkoppelung der Kinderliteratur von der allgemeinen Literatur vollzog. Erst in den siebziger Jahren sind hier wieder verstärkt Annäherungen zu verzeichnen. Bekannte Autoren wie schon früher Marlen Haushofer und dann Barbara Frischmuth, H. C. Artmann oder Friederike Mayröcker sind hier ebenso zu nennen wie Milo Dor, Marianne Gruber, oder jüngst auch Robert Menasse und Peter Handke. Ich bezeichne diese Schriftsteller, zu denen auch Felix Mitterer gehört, gerne als "halbierte" Autoren, da deren kinderliterarisches Schaffen oftmals völlig übersehen beziehungsweise negiert wird - anders als in Deutschland, wo es selbstverständlich wahrgenommen wird, dass ein Peter Härtling eben für Erwachsene und für Kinder schreibt.

Die Furche: Wie steht es um die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kinderliteratur?

Seibert: Die Kinderliteratur ist ein phänomenaler Fundus für die Mentalitätsgeschichte. Wenn man zu Beginn der Kinderliteratur, also bis zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurückgeht, finden sich grandiose Dokumente, die den Wandel der Stellung des Kindes, das Verhältnis zwischen den Generationen, aber auch den Wandel in der Bildungsgeschichte aufzeigen. Bemerkenswert ist die historische Kinderbuchliteratur auch durch das Mitwirken bekannter Künstler als Illustratoren. Im Biedermeier wirkte etwa Moritz von Schwind, im Jugendstil beziehungsweise in der Kunsterziehungsbewegung waren es Persönlichkeiten wie Josef Urban oder Heinrich Lefler.

Die Furche: Welche Relevanz hat die Kinderliteratur Ihres Erachtens für das Kind selbst? Soll man Kindern noch Bücher vorlesen angesichts des vielfältigen Medienkonsums?

Seibert: Eindeutig Ja. Vor allem das Vorlesen durch die Eltern ist ein sehr wichtiger Schritt für Kinder, um einen eigenen Weg in die Literatur zu finden. In der Schule kann dies nur bedingt in dem Ausmaß gelingen, wie es im Elternhaus möglich ist. Durch das Vorlesen erfahren Kinder vor allem, dass den Eltern Lesen etwas bedeutet.

Die Furche: Welche Rolle spielen heute eigentlich noch die traditionellen Märchen von Andersen, Grimm oder Hauff beziehungsweise Kinderbuch-Klassiker wie "Das Dschungelbuch", "Alice im Wunderland", "Pinocchio" oder "Peter Pan"?

Seibert: Sie sind nach wie vor unverzichtbar. Beide Gattungen, Märchen wie Klassiker gehören zu den Archetypen der Literatur, deren erzählerische Muster man ja auch oftmals noch in jüngsten Werken nachwirken sieht. Der "Däumling", "Rotkäppchen" oder "Alice im Wunderland", um nur einige Beispiele zu nennen, gehören zu einem gewachsenen literarischen Ensemble, das von Generation zu Generation weitergereicht wird. Vor allem die darin festgeschriebenen Strategien zur Lebens- und Konfliktbewältigung sind für Kinder von großer Bedeutung.

Die Furche: Viele Eltern stehen beim Buchkauf für ihr Kind vor dem Problem, aus einer oftmals unübersehbaren Fülle aussuchen zu müssen. Sollte man Kindern diese ganze Fülle bieten oder mittels einiger weniger klassischer Märchen und Erzählungen Lust auf Lesen machen? Sind Grimms Märchen dem bunten Angebot vorzuziehen?

Seibert: Meines Erachtens sollte man Kindern die Fülle an möglicher Kinderliteratur unbedingt bewusst machen. Ob in guten Buchhandlungen oder bei kinderliterarischen Veranstaltungen: Den Kindern sollte Literatur als ein eigenes "Leseland" zur Erkundung geboten werden, sodass sie später auch größere Literaturlandschaften entdecken. Eine Begleitung, ein Vorlesen bleibt hierbei natürlich wichtig. Lesen sollte - für Kinder sowie für Erwachsene - eben Erlebnischarakter haben und sich dadurch von anderen medialen Einflüssen abheben.

Das Gespräch führte Hans-Christian Heintschel.

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