Das wird ein Oktober-Fest

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Der kärntnerslowenische Starregisseur Martin Kusˇej startet am 6. Oktober seine erste Spielzeit am Bayerischen Staatsschauspiel. Der alte Wettkampf München-Wien wird neu eröffnet.

Dass Max Reinhardt Wien als die "erste“ Theaterstadt im deutschsprachigen Raum bezeichnet hat, wird man in der Donaumetropole als Selbstbild nicht los. Wiens Selbstverständnis als Kulturstadt resultiert aus Bestrebungen des 19. Jahrhunderts, als es vor allem in der Metropolenkonkurrenz zu Berlin galt, sozioökonomische Rückstände auszugleichen. Die Vorstellung qua Naturgesetz Erster auf den "Brettern, die die Welt bedeuten“ zu sein, müsste man nüchtern wohl als historische Fiktion betrachten, denn im Wettstreit um die vordersten Plätze befindet sich die österreichische Bundeshauptstadt theatermäßig mittlerweile hart auf dem Prüfstand. Vor allem das räumlich nahe München ist mit drei Bühnen (den Kammerspielen, dem Bayerischen Staatsschauspiel/Residenztheater und dem Volkstheater) längst erste Adresse für spannendes und ästhetisch innovatives Theater.

In der kommenden Spielzeit wird München diese Position weiter behaupten, denn jetzt übernimmt Martin Kusˇej das Residenztheater. Kusˇej zählt zu den interessantesten und innovativsten Regisseuren im deutschsprachigen Raum, als ehemaliger Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele (2005/06) verfügt er über Leitungserfahrung, als früherer Handballer über ein gehöriges Ausmaß an Kampfgeist und sportlicher Fairness.

"Gesellschaft formt Theater“

Am Residenztheater folgt Kusˇej dem langjährigen Intendanten Dieter Dorn nach, der von 1983 bis 2001 die Münchner Kammerspiele geleitet hatte und anschließend in derselben Funktion ans Residenztheater wechselte, insgesamt also über 30 Jahre die Münchner Theaterlandschaft geprägt hat. Dorns stand stets für werktreue Inszenierungen und qualitätsvolles Schauspielertheater. Mit Kusˇej, der sowohl für konzeptionelles als auch sinnliches Schauspielertheater bekannt ist, wird Münchens Theaterszene nun um künstlerisch-innovative Sichtweisen reicher.

Die Münchner Kammerspiele zählen seit ihrer Gründung zu den wichtigsten Bühnen im deutschsprachigen Raum. Unter der Intendanz des Münchners Frank Baumbauer (2001-2009) galten die Kammerspiele als Avantgardetheater. Seit einem Jahr leitet nun der niederländische Regisseur Johan Simons das Haus, der Baumbauers exklusives Team übernommen und mit holländischen Schauspielern erweitert hat.

Auch das Münchner Volkstheater entwickelte sich unter der Ägide von Ruth Drexel und Christian Stückl zu einem modernen, nicht nur dem Volksstück verpflichteten Haus mit eigenständigem, jungem Profil. Es öffnete die Münchner Theaterlandschaft für Nachwuchsregisseure und -schauspieler.

In diesem Zusammenspiel, das der Berliner Theaterwissenschaftler Andreas Kotte unter der Formel "Hervorgehobene Vorgänge formen Gesellschaft, Gesellschaft formt Theater“ zusammenfasst, wird auch Kusˇejs Verständnis eines mutig-intelligenten, politischen und zugleich radikal-sinnlichen Theaters Münchens Position als Kulturstadt verstärken. Die Prognose seiner Produktivität unterstreicht der Spielplan, der 28 Produktionen in der Saison 2011/12 ankündigt. Das ist knapp ein Drittel mehr, als sich Intendantenkollege Simons oder Burgtheater-Chef Matthias Hartmann vornehmen.

Gerangel um Ofczarek und Minichmayr

Interessant ist das medial hochgespielte Gerangel um die Burg-Stars Nicholas Ofczarek und Birgit Minichmayr, die auch bei Kusˇej unter Vertrag stehen, sowie die Parallelität der jeweiligen Eröffnungsproduktion. Sowohl in Wien als auch in München ist Arthur Schnitzlers "Das weite Land“ angesetzt, das vor 100 Jahren, am 14. Oktober 1911, zugleich am Residenztheater, am Wiener Volkstheater und an weiteren sechs(!) Bühnen seine Uraufführung erlebte.

In München inszeniert der neue Hausherr selbst und verspricht eine gesellschaftspolitisch brisante Interpretation von Schnitzlers Bestandsaufnahme einer Gesellschaft, die sich längst selbst überlebt hat. Man darf gespannt sein auf seinen Schnitzler, vor allem da sich Kusˇej besonders um die Renaissance österreichischer Dramatiker verdient gemacht hat und zeitgemäße Lesarten anbietet. Er hat die dramatische Kraft des lange als verstaubt und nicht mehr spielbar geltenden heimischen Nationaldichters Franz Grillparzer neu entdeckt sowie vergessene Texte von Autoren wie Karl Schönherr ("Glaube und Heimat“, "Der Weibsteufel“) gehoben. Für die Leitung des Burgtheaters zog man dem kantigen Kärntner Kusˇej indes den smarten Osnabrücker Matthias Hartmann vor.

Nun eröffnen beide ihre Häuser mit demselben Stück. In Wien besorgt der lettische Starregisseur Alvis Hermanis die Premiere am 24. September. Seine hyperrealistischen Interpretationen begeistern das Wiener Publikum, wie er mit Schnitzlers Sprache zurechtkommt, muss sich allerdings erst zeigen. Zwölf Tage später liefert Kusˇej seine Interpretation in München.

Neu ist diese Konkurrenz keineswegs. Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte sich München regelrecht zu einer Theaterstadt: Max Reinhardt hatte 1910 das Münchner Künstlertheater übernommen und hier seine erfolgreiche "Räuber“-, die bekannte "Sommernachtstraum“-Interpretation sowie "König Ödipus“ aufgeführt. Im Vergleich zu Wien: Hier wurde "Mirakel“ 1912 höchst kontroversiell aufgenommen, woraufhin sich Reinhardt zurückzog. Das Burgtheater blieb ihm zeitlebens verwehrt, und als er das Theater in der Josefstadt 1924 übernahm, war er in Deutschland längst zum Star avanciert und in Wien so gut wie nicht anwesend.

Unter seinem Einfluss entwickelte sich aber in München das bürgerliche Theater zur metropolitanen Kultur, so der Theaterwissenschaftler Peter W. Marx. Als Wegbereiter zeigte sich auch Regisseur Otto Falckenberg, der 1917 bis 1944 die Münchner Kammerspiele leitete. Er beeindruckte mit neuen Lesarten von Strindbergs und Shakespeares Stücken und übernahm die Uraufführung von Bertolt Brechts "Trommeln in der Nacht“ (1922). Noch heute zeigen sich Reinhardts und Falckenbergs Bedeutung: Schließlich zählen die Falckenberg-Schule in München und das Reinhardt-Seminar in Wien zu den renommiertesten deutschsprachigen Schauspielschulen.

Literarisch wegweisend für die Landeshauptstadt im Freistaat Bayern war auch Frank Wedekind, dessen Skandalstücke "Lulu“ und "Frühlings Erwachen“ von München aus in die dramatische Moderne führten. Nach dem Verbot von Wedekinds "Die Büchse der Pandora“ durch die Nationalsozialisten initiierte u. a. Thomas Mann eine Kundgebung, bei der er und sein Bruder Heinrich 1926 unter dem Motto "Kampf um München als Kulturzentrum“ auftraten und München zur Theaterstadt deklarierten.

Dramatiker, die noch Stücke schreiben

Während man in Wien Anfang des 20. Jahrhunderts am neuen, vielfach ungeliebten Rumpfstaat und dem verlorenen Vielvölkerreich litt und Trost und Vergessen in Kabaretts und Varietés suchte, hatte sich in München längst eine Avantgardeszene gebildet, die lebendiger und offener war als in den meisten anderen Städten.

Dementsprechend postuliert Kusˇej heute für sich und sein Team eine "radikal gemeinte Identität mit diesem Haus, dieser Stadt“. Dass es sich hier nicht nur um Lippenbekenntnisse handelt, stellt der Spielplan unter Beweis: Einen Tag nach der Eröffnung wird das Stück "Halali“ von Albert Ostermaier uraufgeführt, das sich "dem Komplex Franz Josef Strauß“ widmet, ohne dass die Figur des bayerischen Übervaters selbst auftritt. Am 9. Oktober ist eine weitere Uraufführung zu sehen: "Eyjafjallajökull-Tam-Tam“ von Helmut Krausser, einem der interessantesten deutschen Gegenwartsautoren, der sich mutig und treffsicher zwischen großem Pathos und feinem, sprachlichem Differenzierungsvermögen bewegt. Kusˇej holt also auch Dramatiker, die noch selbst Stücke schreiben, ohne schlicht dem Trend zu folgen, Literatur oder Filme, die es zu Weltgeltung gebracht haben, für die Bühne zu adaptieren.

Kusˇejs München-Befund ist in jedem Fall vielversprechend und macht neugierig: "Das ist eine richtige Theaterstadt hier!“

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