"Debatte geht an den Realitäten vorbei!“

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Er ist Religionspädagoge und im christlich-jüdischen Dialog an vorderer Stelle engagiert: Der Theologe Martin Jäggle zur Diskussion um die Beschneidung. Das Gespräch führte Otto Friedrich

Die Debatte um die Beschneidung, die nach dem Kölner Gerichtsurteil aufgebrochen ist, polarisiert auch hierzulande (vgl. auch Ökumene, unten). Die FURCHE sprach dazu mit dem Religionspädagogen Martin Jäggle, dem Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät Wien. Jäggle ist auch Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Verständigung.

Die Furche: Wie beurteilen Sie die Debatte der letzten Wochen?

Martin Jäggle: Es ist erfreulich, dass religiöse Themen öffentlich diskutiert werden. Aber die Motivation dafür ist grundsätzlich zu hinterfragen: Welche Interessen stehen dahinter, dass nach der Diskussion über das Kreuz, nach der Diskussion über das Kopftuch, die Moscheen nun die Diskussion über die Beschneidung losbricht?

Die Furche: Das ist kein Zufall?

Jäggle: Es war sicher nicht geplant. Aber die Debatte zeigt einmal mehr, dass sich die Gesellschaft schwer tut, religiöse Praxis, die sichtbar ist oder die Spuren hinterlässt, zu akzeptieren. Religion gerät unter einen massiven Rechtfertigungsdruck. Und es steht von vornherein fest, welche Argumente akzeptiert werden und welche nicht - religiöse werden auf keinen Fall akzeptiert.

Die Furche: Es bestreitet aber niemand, dass es hier um eine Kollision von Rechten geht - etwa zwischen dem auf Unversehrtheit der Person und der Religionsfreiheit.

Jäggle: Solange es eine Rechtsfrage bleibt, geht es um Abwägung. Denn kein Recht gilt absolut. Diese Abwägung unterschiedlicher Rechte - es kommt da entscheidend das Elternrecht dazu - ist immer wieder neu auszutarieren. Aber glaubt jemand, dass für die Mehrheit der Beschneidungsgegner die leibliche Unversehrtheit des Kindes absolute Priorität hat - in einem Land, in dem ein Politiker öffentlich für Ohrfeigen eintreten kann, ohne zurücktreten zu müssen?

Die Furche: Die Argumente sind also vorgeschoben?

Jäggle: Es gibt den legitimen öffentlichen Diskurs über die Abwägung von Rechten. Aber wenn allein Religion begründungspflichtig ist und die Gründe, die die Religion anführt, von vornherein illegitim sind, dann geht es offensichtlich darum, in Summe Religion säkular domestizieren und zum belanglosen Raum disziplinieren zu wollen. Die Diskussion ist doch ein Signal für eine zunehmende gesellschaftliche Unfähigkeit im Umgang mit der Religion, religiöser Differenz und der Sichtbarkeit von Religion!

Die Furche: Das Thema Beschneidung polarisiert und emotionalisiert auch unter Religionsaffinen.

Jäggle: Aber die Emotionen sagen ja zuerst etwas über den aus, der diese Emotionen hat. Denn objektiv ist die Beschneidung wirklich etwas Marginales, was körperliche Unversehrtheit betrifft - beispielsweise im Vergleich mit Impfrisken.

Die Furche: Wiederholt wird argumentiert, es handle sich um ein archaisches Ritual und wieder einmal spiele es im Bereich der Sexualität: typisch leibfeindlich!

Jäggle: Leibfeindlichkeit ist eher ein Problem des Christentums als des Judentums. Aber indem man einen Ritus mit schmückenden Beiwörtern wie "archaisch“ versieht, versucht man ihn zu disqualifizieren - und nicht sich rational damit auseinanderzusetzen. Hier wird grundsätzlich unterstellt, Religion sei archaisch, wenn man sie nicht domestiziert. Beschneidung ist aber nun einmal ein Ritus. Für eine Gesellschaft, in der allein Innerlichkeit zählt, ist jedoch die Bedeutung eines Ritus einfach nicht nachvollziehbar. Ich verstehe das schon. Aber aus der mangelnden Fähigkeit, die Bedeutung eines Ritus nachzuvollziehen, abzuleiten, dass das auch für andere nicht legitim ist, und noch zu argumentieren, man trete ja für das Recht des Kindes ein, ist problematisch.

Die Furche: Es haben sich aber zweifelsohne Riten im Lauf der Geschichte verändert, weil sie inakzeptabel sind. Warum soll man dann nicht auch gegen Beschneidung argumentieren dürfen?

Jäggle: Man soll bei den Realitäten bleiben: Die Beschneidung eines acht Tage alten Buben ist kein schädigender Vorgang! Wenn argumentiert wird, man würde durch die Beschneidung soziale Nachteile erleiden, dann liegt das nicht an der Beschneidung, sondern am Umgang mit Differenz. Dass man diskutiert, ist nicht das Problem, sondern wie man den Eindruck erweckt, dass es da nicht um Güterabwägung geht, sondern dass ein Recht absolut gilt. Zweifellos wird das Kindeswohl in unserer Gesellschaft zu wenig respektiert. Aber das ausgerechnet an der Frage der Beschneidung zu diskutieren, geht an den Realitäten, durch die das Kindeswohl in unserer Gesellschaft malträtiert wird, doch völlig vorbei!

Die Furche: Und wo müsste diese Diskussion dann ansetzen?

Jäggle: Da ist die Frage nach einer kindgerechten Gesellschaft, auch nach der Bildungsgerechtigkeit, dass den Kindern der öffentliche Raum gestohlen wird - etwa durch die jetzige Art des Verkehrs. Die Liste ließe sich lang fortsetzen. Darüber gilt es zu reden!

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