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Wenn es nach den Piraten geht, sollen wir in Zukunft mehr der "Schwarmintelligenz“ anonymer Abstimmungsvorgänge vertrauen als den eingeübten Prozeduren repräsentativ-demokratischer Mehrheitsbildung. Ich misstraue allerdings dieser allerorts aufkeimenden basisdemokratischen Euphorie. Und zwar nicht nur, weil sie so auffällige Verstärkung durch die nationale Opposition erhält, deren Parteiführer auf Großplakaten forsch "Dem Volk sein Recht“ fordert. Mein Misstrauen nimmt am meisten dann zu, wenn ich im Internet durch die Postings selbst der angesehensten Tageszeitungen blättere. Was einem da an aberwitzigen Vorurteilen und verbaler Lynchjustiz entgegenquillt, erinnert daran, wie kurz der Weg von der Schwarmintelligenz zum Terror des Kollektivs sein kann.

Triebabfuhr im Netz

Kürzlich suchte mich in dieser Frage ein befreundeter Journalist damit zu beruhigen, dass es sich seiner Erfahrung nach immer nur um eine kleine Gruppe von Menschen mit sehr spezifischen Freizeit- und Persönlichkeitsprofilen handle, die sich dieser Form der Triebabfuhr hingeben. Seit ich das weiß, halte ich die Aufhebung der Anonymität im Netz für sinnvoll und notwendig.

Andererseits fällt auf, dass selbst jene Themen, die fast zwingend nach einer Abstimmung verlangen würden, von den politischen Parteien lieber in der bewährten Mechanik des Klubzwangs parlamentarisch durchgewunken werden. Die 2007 beschlossene Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre war so ein Fall. Die Begründung dafür lautete, nun könne endlich länger sachlich gearbeitet werden, bevor der nächste Wahlkampf beginnt. Das Resultat ist bekannt: Der jeweils nächste Wahlkampf beginnt erst recht sechs Monate nach der geschlagenen Wahl - egal wie lange die Amtsperiode der Regierung dauert.

Man muss nicht zu den unkritischen Befürwortern des "Schweizer Modells“ gehören, um in Sachen direkte Demokratie bei vielem von dem ins Schwärmen zu kommen, was dort als selbstverständlich gilt. Die unprätentiöse Art, in der einander sieben - mehr benötigt man nicht - Regierungsmitglieder im jährlichen Turnus als Bundespräsident ablösen, hat etwas bestechend Einfaches an sich. Auch treten die für ihre Kantone Verantwortlichen bundespolitisch kaum in Erscheinung - während der wahre Kantönligeist in unseren eigenen Bundesländern lebendiger ist denn je.

Zwischen Brüssel und den "G9“

Die Schweizer Regierung wirkt in ihrem Entfaltungsspielraum jedenfalls entschieden freier als unser mehr als doppelt so großes Pendant, das eingeklemmt zwischen den intransparenten Beschlüssen der Landeshauptleutekonferenz ("G9“) und den Vorgaben aus Brüssel ständig vortäuschen muss, vollumfänglich Herr der Lage zu sein.

Ich plädiere deshalb für den Versuch, innerhalb der heute schon gegebenen Möglichkeiten mehr Demokratie zu wagen, sich in den jeweiligen "Gremien“ couragierter zu artikulieren und jene Freiheiten beherzter zu nützen, die unsere Verfassung längst gewährt. Wenn wir das geübt haben, dann können wir auch mehr direkte Demokratie wagen.

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