"Demokratie realisiert Monotheismus"

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Im syrischen Bürgerkrieg wurde auch sein Heimatdorf am Golan, wo er lebte, zerstört. Jawdat Said, 84, musste nach Istanbul emigrieren, wo die FURCHE mit dem führenden islamischen Theoretiker der Gewaltfreiheit sprach.

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Im syrischen Bürgerkrieg wurde auch sein Heimatdorf am Golan, wo er lebte, zerstört. Jawdat Said, 84, musste nach Istanbul emigrieren, wo die FURCHE mit dem führenden islamischen Theoretiker der Gewaltfreiheit sprach.

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Gewaltlosigkeit - ein Prinzip, das auch im Islam religiös ableitbar und argumentierbar ist? Für Jawdat Said, 84, ist Gewaltausübung mit seinem Glauben nicht vereinbar. Die FURCHE traf den islamischen Denker in Istanbul, wo er seit dem Kriegsausbruch in Syrien lebt.

Die Furche: Für Sie ist Gewaltlosigkeit grundlegend im Islam angelegt. Heute aber folgt eine große Zahl von Muslimen dem Ruf zum "Dschihad", unter ihnen auch in Europa sozialisierte Jugendliche. Da lässt sich schwer glauben, dass der Islam tatsächlich etwas mit Pazifismus zu tun haben kann.

Jawdat Said: Der Koran erzählt uns über den ersten Kampf der Menschheitsgeschichte. Abel sagt zu Kain: "Und wenn du deine Hand erhebst mich zu töten, so werde ich meine nicht erheben, um dich zu töten." Und noch immer kommt die Botschaft dieses Textes bei uns Muslimen nicht an. Aber auch Jesus sagte: "Und wer dich schlägt auf eine Backe, dem biete die andere auch dar", und doch verübten auch Christen Gewalt im Namen der Religion, etwa das Massaker an den französischen Protestanten in der Bartholomäusnacht.

Die Furche: Aber wie erklären Sie sich dann die Stellen in Koran und Sunna, den beiden Hauptquellen des Islams, die den Einsatz von Gewalt legitimieren?

Said: Der Koran ist deutlich: "Allah verbietet euch nicht, gegen jene, die euch nicht des Glaubens wegen bekämpft haben und euch nicht aus euren Häusern vertrieben haben, gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren; wahrlich, Allah liebt die Gerechten." Also sollte die Beziehung zum anderen, der nicht Mord und Vertreibung begeht, grundsätzlich eine Beziehung der Wohltätigkeit und Gerechtigkeit sein.

Die Furche: Doch es gibt noch andere Verse, etwa den Schwertvers in dem es "und tötet sie, wo immer ihr sie findet" heißt, und der häufig zur Legitimierung des Kampfes herangezogen wird.

Said: Für den legitimen Kampf finden wir im Koran zwei Bedingungen, die hier nicht zu vergessen sind. Erstens ist allein die rechtlich legitimierte Staatsgewalt zur Ausübung von Gewalt berechtigt. Also diejenigen, die die Herrschaft durch Volkes Willen und nicht durch Zwang und Putsch erlangt haben. Zweitens ist der Kampf nur gegen jene erlaubt, die Menschen eine Religion oder eine Lebensweise aufzwingen oder sie aufgrund ihrer Ideen oder für weltliche Güter vertreiben, die also selbst Gewalt ausüben. Und das nur, wenn die erste Bedingung erfüllt ist und sich kein anderer Weg finden lässt, sie aufzuhalten. Der Kampf außerhalb dieser Bedingungen ist im Islam deutlich untersagt, so sagte der Prophet zur richtigen Verhaltensweise im ungerechten Kampf: "Zerstört eure Schwerter und seid wie Adams guter Sohn."

Die Furche: Dennoch sehen wir speziell heute mit dem Wachsen des "Islamischen Staates - IS" eine massive Zunahme an Gewalt, die im Namen des Islams begangen wird. Wieso besteht diese Diskrepanz zwischen islamischem Ideal und islamischer Realität?

Said: Die Hauptursache dafür mag darin liegen, dass wir in der Interpretation der religiösen Texte scheitern. Noch immer liegt das letzte Wort bei den alten Interpretationen und nicht bei der neuen Realität. Die islamische Welt lebt noch immer in den Schößen ihrer Väter, noch immer an die islamischen Rechtslehren und Interpretationen glaubend, die vor 1000 Jahren verfasst wurden. Und mit Ausnahme einer kleinen Minderheit traut sich keiner, sich von den Vorfahren zu befreien. Und das, obwohl der Koran selbst diejenigen kritisiert, die ihren Vätern folgen, ohne selber zu denken.

Die Furche: Wieso scheinen islamische Interpretationen, welche sich für den Einsatz von Gewalt aussprechen, eine starke Anziehungskraft auszuüben?

Said: Es ist vor allem ein kulturelles Problem, das meiner Meinung nach nicht nur die islamische Welt betrifft. Der Glaube, dass Macht durch Gewalt und Zwang, nicht durch Überzeugung zu erlangen ist, herrscht vor. Das beginnt schon bei den Geschichten und Legenden, die wir uns erzählen, und die allesamt Gewalt und Rache rühmen.

Die Furche: Zur Entwicklung des IS: Die große Mehrheit der islamischen Gelehrten lehnt zwar den IS absolut ab. Aber hat die Stärke des IS nicht doch etwas mit dem Verständnis des islamischen Mainstreams zu tun?

Said: In der islamischen Geschichte finden wir die vier rechtgeleiteten Kalifen, die nach dem Propheten regiert haben. Keiner von ihnen ist durch Gewalt an die Macht gekommen und keiner von ihnen hat die Macht seinen Söhnen vererbt. Dennoch starben drei von ihnen durch Mord. Und nach dem vierten Kalifen kehrte die Macht zum Schwert und zur Herrschaftsvererbung zurück. Bis heute lebt die islamische Welt im Schatten des Schwertes, des Putsches und der Vererbung der Herrschaft. Mit Ausnahme der Türkei - und nun auch Tunesien; aber auch hier sind die Herausforderungen der Demokratie noch zu nehmen.

Die Furche: Also ist der Mainstream-Islam nun mit schuldig an Bewegungen wie dem IS?

Said: Nur der Koran wurde sofort nach seiner Herabsendung noch zu Lebzeiten des Propheten niedergeschrieben. Aber die Niederschrift der Aussagen und Taten des Propheten, sowie theologische Bücher zur Rechtslehre und der Interpretation des Korans erfolgten 200 Jahre nach dem Tod des Propheten, also nachdem die Machtverhältnisse wieder durch das Schwert geregelt wurden. Diese Rechtslehre und diese Interpretation kann uns unmöglich aus der Ungerechtigkeit, die heute geschieht, retten. Die Theologien des "Islamischen Staates" und von El Kaida sowie jene der Sunna und der Schia greifen auf die gleichen Quellen zurück. Für mich ist es besorgniserregend, dass IS und El Kaida sowie die Sunna und Schia in ihrer Lehre so viel gemeinsam haben.

Die Furche: In Ihren Schriften betonen Sie die Harmonie zwischen Islam und Demokratie. Wie beurteilen Sie die Geschehnisse rund um den Arabischen Frühling mit Perspektive auf die heutige Situation? Sehen Sie immer noch ein Potenzial gewaltfreier Demokratie-Bewegungen in der arabischen Welt?

Said: Demokratie bedeutet für mich die gesellschaftliche Realisierung des monotheistischen Prinzips, da die Demokratie, wie auch der Monotheismus keine menschliche Gottheit zulässt. Und wir Muslime müssen dies verstehen, es darf keine menschlichen Götter mehr geben, die töten, stehlen und dafür nicht bestraft werden. Alle, die gegen die Demokratie argumentieren und sich dabei auf den Koran beziehen, müssen anfangen, den Kontext zu sehen. Wenn der Koran von Transportmitteln spricht, so sind es Pferde und Esel, und heute sehen wir die modernen Transportmittel, die keinem der Menschen, denen der Koran gesandt wurde, eingefallen wären. Auch die Demokratie in ihrer heutigen Form sehe ich als moderne Schöpfung, nicht zum Transport von Dingen, sondern zum Transport der Herrschaft ohne Mord und Erbfolge.

Die Furche: Welche Schritte sind notwendig, um zu einer Verbreitung eines demokratischen und gewaltfreien Verständnisses des Islam beizutragen?

Said: Die heutigen Probleme sind Herausforderungen, aber auch Chancen. Vor allem eines ist notwendig: Die Aufdeckung der Krankheiten im islamischen Denken und ihre Heilung mit neuen wissenschaftlichen Ansätzen.

JawdaT Said

Theoretiker der Gewaltlosigkeit

Jawdat Said, geboren am 9. Februar 1931, ist einer der führenden muslimischen Denker der Gewaltlosigkeit, die aus der islamischen Theologie heraus begründet werden. So argumentiert er in seinem ersten Werk, "Die Doktrin des Ersten Sohnes Adams oder Das Problem der Gewalt in der islamischen Aktivität" (1964) basierend auf Koran und Sunna, den beiden Hauptquellen des Islams, dass allein der demokratische Staat im Verteidigungsfall zur Gewaltanwendung berechtigt ist. Weitere Werke, in denen er seine Theorien ausführt, wie "Sei wie Adams Sohn"(1996) folgten. Der in einem Dorf auf dem syrischen Golan geborene Said studierte an der Al-Azhar-Universität in Kairo und ist u. a. ein Schüler von Malek Bennabi (1905-73), der eine islamische Denkschule für eine produktive Auseinandersetzung mit der Moderne begründete. Nach seiner Rückkehr nach Syrien war er Lehrer in Damaskus, wurde aber wegen seines Einsatzes für Gewaltlosigkeit mehrmals inhaftiert und aus dem Staatsdienst entlassen. Ab 1973 bis zu seiner Emigration wegen des Krieges in Syrien lebte Jadwdat Said in seinem Heimatdorf auf dem Golan. (bagh/ofri)

Das Gespräch führte Adnan Baghajati

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