Den EU-Mythos aus den USA zurückholen

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Mit der EU taucht eine völlig neue politische Großform auf, sagt Peter Sloterdijk, die zum ersten Mal kein Imperium mehr sein will.

Für Christine von Kohl liegt ein "Hauch von Romantik" über Europa. Das habe schon mit dem antiken Europamythos angefangen, in dem es "um Schönheit und Liebe" geht, das hört bei den Denkern und Dichtern, die "immer romantisch von Europa träumten und träumen" nicht auf, sagt sie in ihrem Vortrag beim "Kompass"-Symposium zur Identität Europas.

Den Europamythos gibt es in vielen ikonographischen und literarischen Versionen, doch der Kern der Geschichte bleibt immer gleich: Gott Zeus verliebt sich in die phönizische Prinzessin Europa. Er verwandelt sich in einen Stier und bringt Europa dazu, ihr Spiel am Strand von Phönizien gegen einen Ritt auf seinem Rücken einzutauschen, worauf er sie über das Meer nach Kreta entführen kann. Dort zeigt der Stier sich als Zeus und zeugt drei Söhne, die später dann das Reich ihres Stiefvaters, des kretischen Königs Asterios, erben.

Erotik statt Sintflut

Schönheit, Liebe, Romantik als Ausgangspunkt für Europa? In seinem Standardwerk Geschichte Europas erklärt der Wiener Historiker Wolfgang Schmale, dass diese Geschichte "in der vorchristlichen Antike offensichtlich nie als die Geschichte einer Vergewaltigung begriffen wurde, sondern als Glücksmetapher". Zeus' Liebe war Symbol für Auserwähltheit, für leibliche Fruchtbarkeit, für ausreichend Nahrung. Europa wurde in diesem Sinn auch mit dem Attribut der Ähre versehen; freilich, im Laufe der Zeit sind die bildlichen Darstellungen der Erzählung vor allem um erotische Attribute bereichert worden, sprich Zeus und besonders Europa wurden immer nackter.

Diese vermeintliche erotische Anstößigkeit der Zeus-Europa-Affäre führte vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit zu christlich-moralisierenden Versuchen, eine "saubere" Bezeichnung des Erdteils durchzusetzen. Letztlich erfolglos war als ein moralisch-korrekter Konkurrenzbegriff zu Europa die Bezeichnung "Japhetien" lange im Rennen - benannt nach Japhet, einem der drei Söhne des biblischen Noah und, der Legende nach, Stammvater der christlichen Völker in Europa; die sich aber lieber mit der frivolen Erzählung einer großen Leidenschaft als mit der Siedlungsgeschichte von Sintflut-Überlebenden identifizierten. Trotzdem ist der Europa-Mythos für Historiker Schmale nicht im eigentlichen Sinn der Gründungsmythos eines Kontinents, sondern eine mythische Erzählung über Auserwähltheit, Glück und Fruchtbarkeit.

Den "treibenden Mythos" für das heutige Europa präsentiert dafür Peter Sloterdijk in seiner Festrede beim besagten GLOBArt-Symposium in St. Pölten: Der europäische Mantel ist uns noch zu groß, analysiert der deutsche Star-Philosoph, "sitzt keineswegs wie angegossen, weil wir allesamt noch Kinder der Nationalstaaten sind". Deswegen überzieht Europa auch ein "Schleier der vergoldeten Unzufriedenheit", unter dem der Kontinent als "semi-depressives Großkonstrukt" in die größere politische Form hineinwachsen soll - und nicht weiß, wie das geht. Europa ist damit für Sloterdijk in einer ähnlichen Misere wie das alte Rom, bevor es zu seinem großen Sprung ansetzte: Was tun mit der imperialen Bescherung? Wie umgehen mit einer Machtmaschine solchen Umfangs?

In dieser Situation hat Vergil dem Imperium Romanum einen Mythos geschenkt, den Sloterdijk auch dem unsicheren EU-Europa als Orientierung empfiehlt: In der "eurogenen Erzählung" Aeneis liest Sloterdijk "die ganze Botschaft vom Wesen Europas". Und diese Botschaft kommt anfangs sehr geknickt, um nicht zu sagen gebrochen daher: Aeneas, der Fürstensohn, der aus dem brennenden Troja flieht, ist "der Verlierer aller Verlierer", sagt Sloterdijk, "der Mann, der aus der Niederlage kommt und für den Europa Zuflucht und Rettung bedeutet. Europa wird so zur "Region der Regeneration".

Kontinent der 2. Chance

Doch Europa ist nicht der "therapeutische Kontinent" geblieben, sondern dieser verschiebt sich in die USA, wo das "Evangelium der 2. Chance" besser verstanden und zum Gründungsmythos wird. Die Zeit ist für Sloterdijk aber reif, dass "Europa den USA seinen Mythos wieder abspenstig macht" und sich als der "bessere Regenerationskontinent" präsentiert.

Besser, weil Sloterdijk in der Europäischen Union eine politische Großform unbekannten Typs auftauchen sieht, die im Gegensatz zu allen bisherigen Großformen nicht die negativen und zerstörerischen Merkmale von Imperien aufweist: Europa verfasst sich post-imperial, post-heroisch, post-machoistisch, post-enthusiastisch und post-unilateral, also multilateral. In den USA sieht Europa Aspekte seiner heute überwundenen imperialen Vergangenheit, sagt Sloterdijk, das erklärt auch so manchen transatlantischen Konflikt; für sich selbst beansprucht Europa jedoch Weltgeltung zu haben, ohne imperialistisch zu sein. Wahrscheinlich hat das auch die eingangs zitierte Christine von Kohl gemeint, wenn sie bei Europa "einen Hauch von Romantik" spürt.

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