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In einem totgesagten Wiener Stadtraum sprießt durch sanfte Sanierung neues Leben.

Mehr als die Hälfte der in Wien lebenden Zuwanderer wohnt im Bereich des Gürtels - jenes elf Kilometer langen und im Schnitt 76 Meter breiten Verkehrsbandes, das seit Ende des 19. Jahrhunderts die inneren Stadtbezirke von den äußeren trennt. Hinsichtlich Schulbildung, Einkommen und Arbeitslosigkeit weisen die Gürtelbewohner die schlechtesten Werte von ganz Wien auf. Die überwiegend gründerzeitliche Bebauung ist überaus dicht und stark sanierungsbedürftig - fast die Hälfte aller Wohnungen hat kein Bad. Nicht zuletzt wurde der so genannte Westgürtel zur Rotlichtmeile. Mit bis zu 100.000 Fahrzeugen pro Tag ist der Gürtel die meistbefahrene Straße Österreichs - und galt in den letzten Jahrzehnten quasi als Slum.

Daher setzten seit Anfang der achtziger Jahre die Sanierungskonzepte auf groß angelegte technische Verkehrslösungen, etwa die Untertunnelung der Gürtelstraße oder die Verlegung der Fahrbahnen in die Gürtelmitte. Die enormen Kosten, aber auch die Skepsis gegenüber ihrer Wirksamkeit ließen diese Pläne allesamt scheitern. Erst Mitte der neunziger Jahre sah die Stadtplanung ein, dass man - solange sich die Verkehrspolitik nicht grundsätzlich ändert - mit den Automassen wohl oder übel auskommen muss, und wandte sich der Entwicklung "weicher" Standortfaktoren zu - insbesondere von Kultur und Freizeit.

Die neue Hauptbibliothek

Eines der jüngsten Ergebnisse ist die neue Wiener Hauptbibliothek (siehe Furche Nr.14/2003). Gemessen an den Kulturbauten, die andere Großstädte als Impulse in ihre Stadterneuerungsgebiete implantieren - etwa die Bibliothèque Nationale de France in der ZAC Paris Rive Gauche - nimmt sich das im Vorjahr eröffnete Gebäude von Architekt Ernst Mayer geradezu bescheiden aus. Aber auch für Wiener Verhältnisse wirkt es angesichts des aktuellen Booms an selbstdarstellerischen Großprojekten - sei es am Wiener Berg oder am Laaer Berg, sei es in Erdberg - recht zurückhaltend. Schon der Bauplatz glich ursprünglich einer Restfläche: in der Mitte des Gürtels, zwischen den beiden vierspurigen Richtungsfahrbahnen sowie über dem offenen Einschnitt der historischen Stadtbahnstation.

Die Bibliothek ist zwar ein starkes städtebauliches Zeichen, passt sich aber dennoch nach allen Seiten hin den Rahmenbedingungen und Zwangspunkten ihrer Umgebung an. Auf den unmittelbar vorgelagerten Urban-Loritz-Platz, Knotenpunkt von vier Straßenbahnlinien, reagierte Ernst Mayer etwa, indem er die - dem verkehrsreichen Platz zugewandte - Stirnseite der Bibliothek als riesige Freitreppe gestaltete. Seine "benutzbare Fassade" erweitert den Platz bis auf die frei zugängliche Dachterrasse hinauf und dient als Ruhe- und Kommunikationsort. Brauchbare öffentliche Räume sind am Gürtel ohnehin Mangelware - hier entstand noch dazu ein Platz sozialer Durchmischung von Gürtelbewohnern und Bibliotheksbesuchern aus ganz Wien.

Stadtbahnbögen attraktiv

Die neue Hauptbibliothek ist nicht die erste architektonische Intervention in der Gürtelmittelzone. Nur eine Station weiter nördlich verläuft die 100 Jahre alte Stadtbahntrasse bereits in Hochlage - und bestimmt als mit Sichtziegeln verkleidetes Viadukt auf mehreren Kilometern Länge den Straßenraum. Konnte dieses von Otto Wagner entworfene "längste Bauwerk Wiens" seine verkehrstechnische Funktion beibehalten (heute verkehrt darauf die U6), so verödeten die rund 400 Bögen des Viadukts mit dem gesamten Gürtel. Wo sich einst Handwerker, Händler und Gastronomen eingemietet hatten, erzeugten in den letzten Jahrzehnten Peep-Shows, Autowerkstätten, Lager- und Parkplätze, aber auch ungenutzte Bögen ein äußerst unstädtisches Flair.

Es war die Idee der jungen Architektin Silja Tillner, die gestalterische Qualität des Viadukts zu heben und damit für neue Nutzer attraktiv zu machen. Die ersten Impulse sollten von der öffentlichen Hand finanziert werden, der erhoffte nachhaltige Imagewandel und die funktionale Aufwertung hingegen durch private Initiativen erfolgen. Schließlich sollte die Wiederbelebung der Gürtelmittelzone eine Initialzündung für stadtstrukturelle Verbesserungen im gesamten Gürtelbereich sein.

35,5 Millionen Euro an öffentlichen Geldern - davon ein Drittel aus dem URBAN-Programm der EU - flossen 1995 -2001 in das Projekt "URBAN Wien - Gürtel plus", das allein in diesem Zeitraum private Investitionen von mehr als 18 Millionen Euro auslöste. Neben dem städtebaulichen Leitprojekt der Gürtelmittelzone umfasste das Paket noch rund 50 weitere Einzelprojekte im gesamten Planungsgebiet: von der Neuansiedlung von Kleinunternehmen über die Förderung kultureller und sozialer Initiativen bis hin zu ökologischer Blocksanierung und der Neugestaltung von Parks und Plätzen - etwa des weitläufigen Urban-Loritz-Platzes, der durch ein riesiges, nachts hell erleuchtetes Membrandach räumlich gefasst wurde.

Beim Bahnviadukt machte sich die Stadt Wien daran, leerstehende oder fehlgenutzte Bögen freizubekommen, ihre abweisenden Fassaden - Blech- und Plakatwände oder notdürftig errichtete Mauern - zu entfernen, sie zu sanieren und mit technischer Infrastruktur nachzurüsten. Silja Tillner schloss die Bögen daraufhin durch elegante Glasfassaden mit dünnen Stahlrahmen, wodurch sie ihre Barrierewirkung verloren und - ganz im Sinne Otto Wagners - ihre ursprüngliche Transparenz wieder erhielten. Die Architektin entwarf auch Kioske sowie ein eigenes Stadtmobiliar für die Gürtelmittelzone. Entlang der Bahntrasse wurden neue Grünflächen geschaffen, Bäume gepflanzt sowie Fuß- und Radwege ausgebaut. Durch Scheinwerfer, direkt an den Bögen montiert, wurde das gesamte Viadukt zu einem Lichtträger - und die Gürtelmittelzone auch in der Nacht zu einem sicheren Bereich.

Gürtelmittelzone belebt

Tillner agierte aber auch als Maklerin der Bögen, von deren neuen Nutzern der Erfolg des gesamten Projekts abhing. Gemeinsam mit dem Eigentümer des Bahnbauwerks, den Wiener Verkehrsbetrieben, setzte sie auf einen Funktionsmix aus Jugendkultur und Szene-Musik, Kunst und Medien, Ethno-Gastronomie und zukunftstauglichem Einzelhandel - wobei die Mieten nach kommerziellem Nutzungsgrad gestaffelt wurden. Das Konzept ging auf, sodass es für die 30 ersten Bögen bald 300 Nutzungsanträge gab. Mittlerweile herrschen lange Wartezeiten, denn nur drei bis fünf Objekte können pro Jahr freigemacht, saniert und mit den schon charakteristischen Glasfassaden versehen werden.

Gürtel-Gesamterneuerung

Dadurch ermutigt nahm die Wiener Stadtplanung auch die Erneuerung anderer Gürtelabschnitte in Angriff - so etwa am Südgürtel, wo die Grünzone zwischen den beiden Richtungsfahrbahnen kaum mehr belebt war. Als Reaktion auf den Freiflächenmangel in den angrenzenden Bezirken wurden zahlreiche Ballsportplätze errichtet. Durch das Planerteam Ivancsics und Stanzel entstanden gepflegte Grünflächen für verschiedene Altersgruppen, Skateboard-Parcours und Hundefreilaufzonen sowie großzügige Fuß- und Radwege. Auch hier wurde auf neues Straßenmobiliar, elegante Kioske und besonders auf Beleuchtung Wert gelegt.

Binnen weniger Jahre hat sich die Gürtelmittelzone auf mehreren Kilometern Länge zu einer belebten Jugend-, Freizeit- und Kulturmeile gewandelt, deren positives Image auf das gesamte Stadterneuerungsgebiet ausstrahlt. Wie erhofft wird die Gürtelsanierung mehr und mehr zu einem Selbstläufer - getragen von privaten Investitionen. So entstehen nun gleich an mehreren Orten neue Gebäude - in teils bemerkenswerter Qualität: Am Westgürtel stellte das Architektenteam BKK-3 kürzlich sein markantes Büro- und Gewerbezentrum IP-TWO fertig. Im nördlichen Teil des Gürtels überbaut Silja Tillner jenen Bereich, wo die Stadtbahntrasse mit einem stillgelegten Seitenast einen dreieckigen, bisher ungenutzten Hof bildet. Und unweit davon plant Zaha Hadid einen dreigliedrigen Wohn-, Geschäfts- und Bürobau, der das historische Bahnviadukt überspannen soll.

Es bleibt zu hoffen, dass die Wiener Stadtplanung diesen sanften und nachhaltigen Weg der Stadterneuerung am Gürtel fortsetzt. Aktuelle Programme wie "Transform Urbion" deuten zwar darauf hin, doch werden immer wieder auch "durchgreifendere Lösungen" erwogen: der Bau von Hochhäusern, die Deregulierung der Flächenwidmungs- und Bebauungsplanung zu Gunsten privatrechtlicher Bauverträge, die generelle Aufzonung der Gürtelbebauung auf 35 Meter Traufhöhe - alles in der vagen Hoffnung, Großinvestoren damit anzulocken. Dies hieße einen unnötigen Rückgriff auf überkommene Sanierungsstrategien, die bisher noch nie Erfolg gebracht haben.

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