Den Krieg im Keller ÜBERLEBEN

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Ich habe Freunde in Debaltsewo. Das ist eine Stadt im Osten der Ukraine. Das heißt, früher war es eine Stadt. Jetzt sind es Ruinen. Ich will von den Menschen dort erzählen, und wie sie jetzt zwischen den Fronten überleben müssen.

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Ich habe Freunde in Debaltsewo. Das ist eine Stadt im Osten der Ukraine. Das heißt, früher war es eine Stadt. Jetzt sind es Ruinen. Ich will von den Menschen dort erzählen, und wie sie jetzt zwischen den Fronten überleben müssen.

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Irgendwo ganz in der Nähe, bloß sechs Stunden Fahrt mit dem Schnellzug entfernt, geschieht etwas, das sich kaum in Sprache vermitteln lässt. Trauer, Angst und Pathos sind die sonst üblichen Übersetzer der Sprache des Krieges in die Sprache des Alltags. Nun verweigern sie ihre Arbeit. Sie entfernen sich von ihrer Funktion und hinterlassen eine Leere, die sich nicht mehr ausfüllen lässt. Schon seit mehr als einer Woche liegt die Stadt Debaltsewo unter dauerhaftem Beschuss. Ich war oft dort, früher, ich habe dort Freunde und Bekannte.

Und dies ist, was ich von ihnen weiß, und ich will es Ihnen erzählen. Ich weiß, dass dort Menschen leben, die sich noch im Sommer tief bestürzt über die Bombardierung des Sportzentrums der Stadt beschwerten. "Mit seiner Zerstörung verschwand die Kultur unserer Stadt für immer", sagten sie. Aber sie wussten nicht, was noch kommen sollte. Ich weiß, dass diese Menschen jetzt in Kellern leben und dort versuchen zu überleben. Dass sie für höchstens 15 Minuten pro Tag aus diesen Kellern ans Tageslicht steigen. Dass sie sich bereits für immer von jenen Freiwilligen und Angehörigen verabschiedet haben, die noch vor wenigen Tagen nach Debaltsewo gelangten und in den Kofferräumen ihrer Autos Brot oder Milch mitbrachten. Aber können wir, die nie etwas Vergleichbares erlebt haben, verstehen, was im Osten der Ukraine passiert? Können wir uns vorstellen, wie das, was dort vor unseren Augen geschieht, uns und sie verändern wird? Ich glaube das nicht.

Kein Licht, keine Wärme

In Debaltsowo ist Winter, es herrschen Minusgrade, es gibt kein Wasser, keine Wärme und nur noch in Ausnahmefällen Strom (Die Bilder wurden vor einer Woche aufgenommen, inzwischen ist die Stadt vollständig eingekesselt und von der Versorgung mit Strom, Wasser und Nahrungsmittel abgeschnitten; Anm.). Der Beschuss durch die mobilen Boden-Luft-Raketen bleibt nie länger als 30 bis 40 Minuten aus. In den Kellern ist ist es dunkel und kalt, es gibt nichts zu essen. In dieser Woche ist in einem der ältesten Stadtviertel - in der Sawodskoj-Siedlung - durch Raketenbeschuss ein Heizwerk explodiert, und die letzte Hoffnung auf Wärme im Winter ist dahin. Die Verletzten, Zivilisten und ukrainischen Soldaten bleiben ohne Medikamente, ohne einfachste medizinische Versorgung.

Drei Minuten reichten aus

Die Mobilfunkmasten wurden zerstört, in der Stadt gibt es faktisch keinen Empfang mehr. Unter Lebensgefahr geht einer aus dem Keller auf den Dachboden, schaltet sein Handy für drei Minuten ein, um seine Verwandten anzurufen und zu sagen: "Wir leben noch." Aber der Akku des Handys ist bald leer, man kann ihn nirgendwo aufladen, es gibt keinen Strom, und die Versorgung wird so bald nicht wiederhergestellt.

Er war drei Minuten lang auf dem Dachboden, doch das reichte aus, um die brennenden Garagenreihen nebenan zu sehen. Eine Rakete traf das Nachbarhaus.

Vor dem Krieg lebten hier rund 45.000 Menschen. Alle, die wegfahren konnten, haben die Stadt bereits im Sommer verlassen. Manche trauten sich nicht. Sie konnten sich nicht erlauben, wegzufahren, aus unterschiedlichen Gründen. Geblieben sind alleinstehende Mütter mit ihren Kindern, alte Leute, junge Frauen, die ihre Eltern nicht verlassen wollten. Für die Alten könnte doch jeder Umzug gefährlich werden -so dachte man noch im Sommer. Geblieben sind jene, die bis zum letzten Moment den Gedanken an das Leben als Flüchtling abwehrten. Wie die Studenten und Dozenten einer Eisenbahner-Fachoberschule, die immer noch nicht evakuiert wurde.

Aber gab es überhaupt eine Evakuierung? Wurde irgendetwas unternommen, um die Menschen aus dem Donbass zu retten, Aus den Dörfern, die zum Schutzschild der Separatisten geworden sind?

Es ist offensichtlich: Kiew hat alle Fristen verstreichen lassen. Die Rettung all dieser Leben wäre eine durchaus realisierbare Aufgabe gewesen. Die Evakuierung hätte sogar relativ ruhig vonstattengehen können. Aber die Zeit ist verstrichen. Auch die zahlreichen Freiwilligenorganisationen, die mutig und verzweifelt für die Leben der Menschen im Osten kämpfen, können den Staat nicht ersetzen.

Der Staat tut nicht genug, um Leben zu retten, und dieses Defizit wirkt niederschmetternd, es demoralisiert - es ist, als geschähe, was in Debaltsewo passiert, in unser aller Namen.

Im Donbass habe ich oft den Vorwurf gehört: "Die Ukraine hat uns aufgegeben." Die Bewohner von Debaltsewo erzählten mir bereits vor Monaten voller Unverständnis, die ukrainische Regierung hätte ihnen versprochen, dass nicht mehr bombardiert werde - aber der Beschuss ging immer weiter. Dass Separatisten friedliche Städte bombardieren, war für die Menschen nicht erstaunlich. Erstaunen löste die schockierende Einsicht aus, dass die Regierung in Kiew monatelang nichts tat, um die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten. Sie wurden sich selbst überlassen und konnten sich nicht retten. Verzweiflung, der tägliche Horror, die russische Propaganda trieben sie erst auf die Seite der Separatisten. Aber dort erwartete sie nichts, abgesehen von noch mehr Verzweiflung.

Von Schnee und Krieg

Ich stamme aus einem Land, in dem starker Schneefall jeden Winter für eine Überraschung sorgt. Wo es Schneefall geben kann, ohne dass sich eine Millionenstadt dafür bereit macht. Dann bleiben Busse in Schneewehen stecken, Geschäfte haben kein frisches Brot mehr, und das Leben der Stadt bleibt für einige Tage stehen, bis der Schnee schmilzt oder geräumt wird.

Der Krieg stellte sich als etwas heraus, das wir verdrängten oder verdrängen wollen. Als ein Traum, den das ganze Land träumt und immer noch glaubt, man brauche sich nur selbst aufzuwecken, um in der alten, normalen Welt aufzuwachen. Einer Welt, in der es keinen Krieg gibt, weil es keinen Krieg geben kann. Glaubt Europa auch zu träumen? Dort ist der Schnee immer zeitig geräumt, und wenn ein Zug fünf Minuten Verspätung hat, liest man das unter allgemeinem Erstaunen von einer Anzeigetafel ab. Träumen wir den selben Traum?

Vielleicht kennen wir uns gar nicht so gut, wie wir meinen? Wer sind wir - wir, die anderen Menschen bei ihrem langsamen Sterben zusehen? Kann man wirklich nichts tun? Wer werden wir sein, wenn wir aufwachen? Heute will ich nicht in den Spiegel sehen.

Die Autorin ist Künstlerin und Autorin und lebt in Kiew

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