Den Opfern ihre Geschichte zurückgeben

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Pünktlich zu seinem 60. Geburtstag erscheint ein neuer Band von Erich Hackl. Auch in seinen "Drei tränenlosen Geschichten" bleibt der österreichische Autor, der konsequent seinen Weg gegangen ist, seinen Lebensthemen treu.

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Pünktlich zu seinem 60. Geburtstag erscheint ein neuer Band von Erich Hackl. Auch in seinen "Drei tränenlosen Geschichten" bleibt der österreichische Autor, der konsequent seinen Weg gegangen ist, seinen Lebensthemen treu.

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Am 26. Mai wird Erich Hackl 60 Jahre alt. Blickt man auf sein bisheriges Schriftstellerleben zurück, wird deutlich, dass er mehr als konsequent seinen Weg gegangen ist. Seit vielen Jahren befasst sich der aus Steyr stammende Autor mit den dunkelsten Seiten der österreichischen Vergangenheit, aber auch mit der Zeit der Gewaltregimes in Spanien und Lateinamerika. Entlang dieser Spur politischer Verbrechen entblößt er Wunden, trägt in mühevoller Kleinarbeit Material zusammen, dokumentiert und gibt den Opfern politischer Gewalt dadurch die Matrix ihrer Geschichte literarisch zurück. Hackls "biografische Koordinaten" akzentuieren den thematischen Kern seiner Bücher, wie Günther Stocker luzide analysiert: "Die starke Tradition der Arbeiterbewegung in der oberösterreichischen Industriestadt, aber auch die begeisterte Aufnahme des Nationalsozialismus ebendort, die räumliche Nähe zum Konzentrationslager Mauthausen [und] das Interesse für die hispanische Kultur, die Länder Lateinamerikas".

Arbeit am kollektiven Gedächtnis

Nach dem Buch über seine Mutter, in dem er den Spuren seiner eigenen Herkunft folgt, wendet Hackl sich wieder der Arbeit am kollektiven Gedächtnis zu. In seinen "Drei tränenlosen Geschichten" geht es um Schicksale quer über die Kontinente. Die tiefe Überzeugung, Widerstand leisten zu müssen, verbindet sie miteinander. Zum einen ist da eine jüdische Unternehmerfamilie, die 1939 nach Brasilien auswandern muss, zum anderen ein Fotograf in Auschwitz und dann die kommunistische Widerstandskämpferin Gisela Tschofenig, die 1945 hingerichtet wird. Für seine Recherchen zieht er Fotos und Dokumente heran, auch Briefe oder Gespräche, die er in seine Texte integriert, um ihnen Authentizität zu verleihen. Seine Intention ist es, Lebenssplitter und Zerbrochenes zusammenzufügen, Verdrängtes oder Verschwiegenes sichtbar zu machen, auch wenn es oft nur fragmentarisch möglich ist. Hackl bleibt immer nahe bei den Fakten, nur manchmal ist er mit leisen Anmerkungen präsent. Ganz offen spricht er Schwierigkeiten bei Recherchen an, wenn sich die Hinterbliebenen den Erinnerungen nicht mehr aussetzen wollen.

"Unser Leben war anders"

Ein Foto der Familie Klagsbrunn aus dem Jahre 1904 ist Ausgangspunkt für eine Geschichte, die in Floridsdorf beginnt. Von den direkten Nachfahren lebt nur mehr Victor, dem Hackl in Rio de Janeiro während einer Vortragsreihe begegnet. Victor hat ihm von sich erzählt: Seine "Verfolgungsgeschichte, schlimmer als die seiner Eltern und Großeltern". Nach dem frühen Tod seines Vaters engagiert sich Victor politisch für den "sozialen und politischen Wandel in Brasilien". Zusammen mit seiner späteren Frau Marta wird er im Widerstand aktiv. Beide werden verraten, festgenommen, gefoltert und kommen irgendwann wieder frei. Schlicht und frei von Emotionen schildert Hackl die Geschichte dieses Paares, das zur Zeit der Militärdiktatur durch die Hölle brasilianischer Gefängnisse und dann durch die Belastungen des Exils geht: "Man verliert alles, man muß alles neu konstruieren." Wurzellosigkeit und Heimatlosigkeit treiben die beiden von Rom und Berlin wieder zurück nach Brasilien, wo sie resümieren: "Es war richtig, im Widerstand gewesen zu sein. Es war richtig, sich für mehr Gerechtigkeit einzusetzen." Auch nach ihrer Rückkehr kämpfen sie mit den Folgen, die "das ständige Provisorium" in ihnen hinterlassen hat: "Unser Leben war anders."

In der zweiten Erzählung beleuchtet Hackl das Schicksal des Lagerfotografen Wilhelm Brasse, der sich weigert, für die Wehrmacht zu kämpfen und "lieber Pole als Deutscher sein" will. Auschwitz überlebt er zufällig, vor allem aber, weil sein Beruf den Nazis nützt. Er muss das Grauen im KZ dokumentieren, kann manchmal helfen, jemandem ein Brot zustecken. Bekannt geworden ist er mit einem Foto, das vier jüdische abgemagerte Mädchen zeigt, "die kurz davor sind zu sterben". Solche Bilder haben sein Gedächtnis nie wieder verlassen. Nach seiner Befreiung ist er nicht mehr in der Lage, als Fotograf zu arbeiten.

Erich Hackl hat Brasse persönlich kennengelernt. Über eines seiner Fotos hat er bereits eine Erzählung verfasst, "Die Hochzeit von Auschwitz", ohne zu wissen, dass es sich dabei um eine Aufnahme Brasses gehandelt hat. Es sei "die einzige Aufnahme" gewesen, die ihm Freude bereitet habe: das Hochzeitsfoto seines Schutzhäftlingsfreundes Rudi Friemel; er wird hingerichtet, weil er vier Polen zur Flucht verholfen hat.

Über eine NS-Regime-Gegnerin

Die dritte Geschichte führt wieder nach Österreich zurück. Sensibel tastet sich Hackl an das Leben der Widerstandskämpferin Gisela Tschofenig heran. "Dem waren sie alle ausgesetzt." Mit diesem Zitat aus Manfred Frankes "Mordverläufen" setzt Hackl einen markanten Beginn. Die Bergung der hingerichteten Gisela stellt die Verwandten vor eine enorme emotionale Herausforderung. Ihre Geschichte skizziert Hackl vom Ende her, so weit sie sich überhaupt in Erfahrung bringen lässt: sozialistische Erziehung, Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands, die Geburt ihres Kindes Hermann, Verrat und Verhaftung. Hackl spricht mit ihrem Sohn, der seine Mutter kaum kennen gelernt hat, und von der Schwierigkeit, an Dokumente zu kommen. Was bleibt, ist die bittere Erkenntnis, "daß Gisela [für sie] nicht wirklich lebendig" werden kann, "keine scharfen Konturen bekommt".

Erich Hackl zählt mittlerweile zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern. Angesichts seiner Themen scheint es nahezu unmöglich zu sein, in seinen Werken etwas anderes als Leid und Unmenschlichkeit zu finden. Und dennoch berührt das Lesen seiner Texte ganz seltsam, weil er das, was er angreift, literarisch so behutsam aufbereitet. Der erste Satz, das fragmentarische und doch so gut durchdachte Aufrollen eines Lebens, die kleinen Puzzleteile und Perspektiven, die sich plötzlich ineinanderschieben, die Betroffenheit, wenn man am Schluss des Bandes einer minutiösen Wegbeschreibung des Autors folgt und mit ihm bei der gesuchten Gedenktafel unter einem Straßenschild innehält: "Gisela Tschofenig (1917-1945), Gegnerin des NS-Regimes." Hackl gibt dem Widerstand erneut eine Stimme.

Drei tränenlose Geschichten

Von Erich Hackl.

Diogenes 2014.160 Seiten, gebunden, € 19,50

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