Den Weltkrieg lesen. EINE SPURENSUCHE

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Im Jahr der Erinnerung an 1914 ist Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit" allgegenwärtig. Doch es lohnt auch der genaue Blick in andere Literatur, die bisher weniger beachtet wurde.

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Im Jahr der Erinnerung an 1914 ist Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit" allgegenwärtig. Doch es lohnt auch der genaue Blick in andere Literatur, die bisher weniger beachtet wurde.

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"Unauslöschlich ist der Krieg in den Köpfen der Menschen", ihre Gedanken "sind unterhöhlt vom Militarismus", schreibt Arthur Holitscher 1925 in einem Essay über seine Reise in einstiges Feindesland mit dem Titel "Der Narrenbaedeker. Aufzeichnungen aus Paris und London". Holitscher beharrt darauf, dass der radikale Zivilisationsbruch die Gesellschaft nachhaltig imprägniert. Den Tank, das zeittypische Wort für Panzer, der als Fanal des technischen Fortschritts vor dem Britischen Museum aufgestellt wurde, nimmt Holitscher genauso als Zeichen der Zeit wie das Tourismusangebot "Reise zu den Schlachtfeldern" - als "Reklamefahrten zur Hölle" emphatisch vorgetragener Bestandteil von Karl Kraus' Leseprogrammen. Die subtilste Auseinandersetzung mit der Vermarktung der Schlachtfelder stammt von Stefan Zweig, der 1928 Ypern in Belgien bereiste, wo 200.000 Soldaten starben und eine Reihe kleiner Städte in Kraterlandschaften verwandelt wurden. Ein Jahrzehnt später ist alles wieder aufgebaut, originalgetreu, nur die Ruine der Stadthalle in Ypern hält ein gespenstisches Erinnerungsfenster offen.

Flut der Kriegerdenkmäler

Eine bis heute sichtbare architektonische Folge des Ersten Weltkriegs sind die eilig aufgestellten Kriegerdenkmäler, die eben nicht "Soldatendenkmäler" heißen und in Stein meißeln, worüber sonst rasch geschwiegen wurde. Nach 1945 wurden sie mit einem entsprechenden Eintrag meist lediglich 'adaptiert'. 1918 aber erhielt jedes noch so kleine Dorf seinen "Ehrenstein für die gefallenen Krieger". Doch die Denkmalkunst, so Robert Musil, sei mit ihrem Grau in Grau "verglichen mit der zeitgenössischen Entwicklung des Anzeigenwesens" hoffnungslos rückständig. Wem man "im Leben nicht mehr schaden kann", den stürzt man "mit einem Gedenkstein um den Hals, ins Meer des Vergessens". Tatsächlich war es gerade die Flut der Kriegerdenkmäler, die letztlich für ihre Unsichtbarkeit sorgte.

In der Literatur hinterlassen radikale gesellschaftliche Einschnitte dauerhafte Spuren, sie erweist sich oft gerade dort als zuverlässiger Gedächtnisspeicher, wo eine Epoche rasch und flächendeckend das Vergessen sucht. Aus der historischen Distanz werden diese Spuren mitunter erst bei einer systematischen Lektüre sichtbar, die charakteristische Motive und Konstellationen oft auch bei Autoren sichtbar macht, wo man sie weniger beachtet oder kaum vermutet hat.

Leicht zu übersehen ist etwa, wie intensiv just Hugo von Hofmannsthal, der den Krieg nur vom Kriegsfürsorgeamt her kannte, am Mythos der Kameradschaft aus gemeinsam überstandener Todesangst schreibt. Jeder Krieg martialisiert die Gesellschaft und lebt in Männermythen - den "seltsamen Mannsrausch" nennt das Marie Eugenie delle Grazie - und männerbündlerischen Strukturen fort. "[] draußen, da haben wir uns miteinander angefreundet wir haben das letzte Stückl Brot miteinander geteilt", sagt Baron Kari in Hofmannsthals Stück "Der Schwierige" (1921) ausgerechnet über den Mann seiner Geliebten, und Kari kommt mit großer Hartnäckigkeit immer wieder auf die Erlebnisse da "draußen" zurück; "ich hab gedacht, du hast dir draußen das viele Nachdenken ein bißl abgewöhnt", spottet seine Schwester, als er sich nicht und nicht entscheiden will, ob er nun auf die Soiree gehen wird oder nicht. Und Karis Kriegserlebnisse müssen fortwährend als Entschuldigung für inadäquates Sozialverhalten herhalten, das seien eben "die Nerven seit der Geschichte". In den Diskurs über die "Nerven" hat der Krieg einen deutlichen Geschlechterwechsel gebracht: Um 1900 war der Verweis auf "die Nerven" noch nahezu ausschließlich Frauen zugeordnet.

Schreibt Hofmannsthal unkritisch an einem Mythos weiter, thematisiert Vicki Baum 1926 die gesellschaftlichen Kriegsfolgen in ihrem Roman "Feme" am Beispiel der rechtsradikalen Frontkämpferverbände. Gegen die gesellschaftlich verordnete Strategie des raschen Übergangs zur Normalität steht auch ein Mann wie Dr. Ottenschlag in ihrem 1929 erschienenen Roman "Menschen im Hotel", der sein zerschossenes Gesicht wie ein Mahnmal durch die Nachkriegsgesellschaft trägt; er hat nicht nur kein Verständnis für Lebensfreude und Lebensgier in den Hotelbars, er stört auch das allgemeine Bedürfnis nach Unbeschwertheit und Vergessen. Deshalb wurden die Gesichtsentstellten in abgelegenen Lazaretten weggesperrt. "Es ist verboten, der Öffentlichkeit Kieferbeschädigungen zu zeigen", bedauerte Joseph Roth 1920 in seinem Feuilleton "Die Fratze der Großen Zeit", wäre doch gerade die Sichtbarmachung von Kriegsfolgen dieser Art zur Prophylaxe gegen eine neuerliche Kriegsbegeisterung gut geeignet.

Eine konkrete Kriegsfolge war auch der sprunghafte Anstieg der Geschlechtskrankheiten. Neben dem Süßstoff Saccharin ist Salvarsan, das Syphilismedikament der Firma Hoechst, das bis 1972 weiter produziert wurde, das gewinnträchtigste Schmuggelgut der Nachkriegsjahre. Hier dominieren in den Romanen der Zeit eigenartiger Weise kulturpessimistische Zuschreibungen, die Geschlechtskrankheiten nicht mit dem Krieg, sondern mit dem Sittenverfall nach dem Krieg in Verbindung bringen.

Technische Errungenschaften

Dass der Krieg der Menschheit eine Reihe von technischen Errungenschaften bescherte, greift die Literatur immer wieder mit zynischer Geste auf. Den elektrisch geladenen Stacheldraht etwa übernehmen die neuen Reichen in den Romanen der 1920er Jahre dann für die Absicherung ihrer Wohn-wie Firmensitze. Die Ungeheuerlichkeit der Wirkung des Giftgases zu beschreiben, stellte freilich eine sprachliche Herausforderung dar. "Mit milchweißen Tatzen kroch der tausendgestaltige Nebel reptilhaft schmiegsam über das Feld, um in Löcher, Riffe, Trichter, Gräben, Gruben tödlich zu schlüpfen", heißt es in Franz Werfels 1929 erschienenem Roman "Barbara oder Die Frömmigkeit". Die Hauptfigur arbeitet hier in der Telefonstation eines Bataillonskommandos. Das ist nicht nur ein autobiographischer Reflex - Werfel war einige Zeit Telefonist hinter der Front in Galizien -, es entspricht dem kriegsindizierten Technologieschub, der sich zahlenmäßig festmachen lässt: Die Nachrichtentruppe der deutschen Armee etwa war mit 550 Offizieren und 5.800 Mann in den Krieg gezogen und kehrte 1918 aufgestockt mit 4.381 Offizieren und 185.000 Mann zurück. Nach dem Krieg kamen die Fortschritte in der Technik funkgestützter Übertragung dann vor allem den (Börsen-)Geschäften zugute, Schieber und Inflationsspekulanten waren auf Schnelligkeit der Informationsbeschaffung angewiesen.

Einen großen Aufschwung nahm auch die Statistik. Die sachliche Registrierung der Kriegsschäden, Opfer und Materialverluste schärfte den Blick für die quantitative Erfassung von Fakten. Daraus entstand 1933 der bemerkenswerteste Arbeitslosenroman der österreichischen Literatur: Rudolf Brunngrabers "Karl und das 20. Jahrhundert". Brunngraber setzt jene Wiener Bildstatistik literarisch um, die Gerd Arntz und Otto Neurath entwickelten. Nach den Heeresverbänden war das Heer der Arbeitslosen die zweite Bewährungsprobe statistischer Methoden im Dienste technokratischer Verwaltung von Massenphänomenen.

Wie man den Krieg erkennt, bevor er da ist

Von der statistischen Ordnung der Probleme erwarteten sich die Zeitgenossen viel. Darüber macht sich Robert Musil in seinem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" lustig, der über tausende Seiten hinweg die Frage stellt, wie man den Krieg erkennt, bevor er da ist. Ein Vorschlag für die geplante "Parallelaktion" zu den beiden Regierungsjubiläen 1918 empfiehlt, den statistischen Mittelwert der Balkenzahl aller im öffentlichen Raum sichtbaren Schriftzeichen zu erhöhen, denn Buchstaben mit vier Balken seien ein Glücksversprechen, WEM also ein Glücksfall, wohingegen es die einbalkigen Buchstaben O, S, I, C zu unterdrücken gelte. Ulrich hingegen schlägt ein "Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele" vor, um eine "geistige Generalinventur" zu beginnen. "Wir müssen ungefähr das tun, was notwendig wäre, wenn ins Jahr 1918 der Jüngste Tag fiele, der alte Geist abgeschlossen werden und ein höherer beginnen sollte."

1918 war mit dem Zusammenbruch der Monarchie der "alte Geist" tatsächlich abgeschlossen, zugleich aber das 'Höhere' der Kriegseuphorie final desavouiert. "Unsere Dichter und Schriftsteller waren dem Massenerlebnis des Krieges nicht gewachsen", sagt in Werfels "Barbara oder Die Frömmigkeit" der Unternehmer Aschermann. "Kein Lied ist entstanden, kein Epos

Eine armselige Heerfahrt mit Speer und Schild, Pfeil und Bogen hat das Nibelungenlied gezeitigt Und der größte aller Kriege hat, soweit ich es übersehen kann, nichts hervorgebracht." Aschermann, ein Porträt des Kriegslieferanten Josef Kranz, der 1917 wegen Preistreiberei verurteilt wurde, mag mehr auf den heroischen Aspekt abzielen, aber es hat tatsächlich ziemlich genau ein Jahrzehnt gedauert, bis die literarische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg in größerem Umfang und unter neuen Vorzeichen einsetzte.

2014 ist ein guter Anlass, im Trommelfeuer der Berichte und Publikationen über den Ersten Weltkrieg einen genaueren Blick auf das Thema Literatur und Krieg zu werfen, auch um das Bild der österreichischen Antikriegsliteratur vielleicht etwas breiter aufzufächern und zu Wiederentdeckungen einzuladen.

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