"Denn mein Gebiet ist der Mensch"

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Zum 50. Todestag von Karl Jaspers, dem interdisziplinären Grenzgänger zwischen Psychologie und Existenzphilosophie.

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Zum 50. Todestag von Karl Jaspers, dem interdisziplinären Grenzgänger zwischen Psychologie und Existenzphilosophie.

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Die Überzeugung des Philosophen Karl Jaspers: "Ich bin der Freiheit für mich gewiss, aber nicht im Denken, sondern im Existieren; nicht im Betrachten und Fragen nach ihr, sondern im Vollziehen." Für ihn war die Philosophie ein grenzüberschreitendes Denken, das der Einzelne selbst zu vollziehen hat. Er strebte keineswegs die Ausbildung einer möglichst komplexen, in sich geschlossenen Theorie an, sondern entwarf eine Art Experimentalphilosophie, die sich mit den konkreten Bedingungen individuellen Existierens befasst. Jaspers unterschied zwischen "Existieren" und "Sein" - zwei Begriffe, die völlig verschiedene Phänomene bezeichnen. Während Pflanzen nur "sind", sich um ihre Existenz nicht zu kümmern brauchen, "existiert" der Mensch; er ist aufgerufen, sich Lebensziele zu setzen und sie zu verwirklichen. Gleichzeitig wies Jaspers darauf hin, dass diese Selbstverwirklichung von Situationen bedroht ist, über die der Mensch nicht verfügen kann. Es gibt Situationen, "die in ihrem Wesen bleiben, auch wenn ihre augenblickliche Erscheinung anders wird und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt: ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld." Diese Phänomene des menschlichen Daseins nannte Jaspers Grenzerfahrungen, die wir nicht ändern können. Eine Grenzerfahrung begleitete Jaspers seit seiner Jugend. Er litt unter Bronchialproblemen, die seine körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigten und eine disziplinierte Lebensweise erforderten.

Vom Mediziner zum Philosophen

Karl Jaspers wurde am 23. Februar 1883 in der norddeutschen Stadt Oldenburg geboren und wuchs in einem verständnisvollen, wohlhabenden Elternhaus auf. Bereits im Gymnasium stieß er auf einen "blinden Autoritätsglauben und wichtigtuerischen, wissenschaftlichen Philologengeist", die er zeit seines Lebens leidenschaftlich bekämpfte. Erfolgreich absolvierte Jaspers das Gymnasium und studierte -nach einem kurzen Zwischenspiel an der Juridischen Fakultät - Medizin in München, Göttingen und schließlich in Heidelberg, wo er 1908 mit einer Arbeit über "Heimweh und Verbrechen" promovierte. Dieses Studium sollte ihm, schrieb er in seiner Autobiografie, "den Weg zum Menschen freilegen. Denn mein Gebiet ist der Mensch, zu nichts anderem hätte ich Fähigkeit und Lust". Besonders faszinierte ihn dabei die Psychopathologie, die am Beginn des 20. Jahrhunderts meist als empirische, "objektive" Wissenschaft betrieben wurde. Nach der Promotion kam er als Assistent an die Psychiatrische Klinik Heidelberg, wo er sich die Grundlagen für sein heute noch gültiges Standardwerk über die "Allgemeine Psychopathologie" erarbeiten konnte. Neben seinen medizinisch-psychiatrischen Forschungen wandte er sich der Philosophie zu und fand bei Platon, Augustinus oder Kierkegaard wesentliche Anregungen für sein sich allmählich entfaltendes Denken. Dank der Vermittlung des Soziologen Max Weber wurde Jaspers Dozent für Psychologie an der Philosophischen Fakultät. 1922 erhielt er als knapp 40-jähriger fachfremder Wissenschaftler eine ordentliche Professur für Philosophie in Heidelberg, was von den akademischen Kollegen missgünstig und teilweise sogar höhnisch kommentiert wurde. Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten bedeutete für Jaspers einen entscheidenden Einschnitt. Da seine Frau aus einer jüdischen Familie stammte, wurde ihm 1937 die Lehrbefugnis entzogen; ein Jahr später erhielt er Lehrverbot. Besonders bedrohlich empfand er die Möglichkeit einer Deportation.

Das Subjekt und die Welt der Objekte

Die jahrelange, ständige Bedrohung durch die Schergen des nationalsozialistischen Regimes konnte Jaspers niemals verwinden. "Äußerlich sind wir ohne Schaden davongekommen", schrieb er, "aber ich kann nicht vergessen, dass wir unser Leben den Amerikanern verdanken -gegen Deutsche, die uns im Namen des Nationalsozialismus vernichten wollten." 1948 nahm der Philosoph einen Ruf an die Universität Basel an, wo er bis zu seinem Tod am 26. Februar 1969 lebte. In Basel widmete er sich in verstärktem Maß seinen philosophischen Studien, die er auch während seines von den Nationalsozialisten verhängten Berufs-und Publikationsverbots fortgesetzt hatte. Zentralen Stellenwert im Denken Jaspers nimmt das Problem der menschlichen Erkenntnis ein, die immer schon als Dualismus auftritt. Dem denkenden Subjekt steht dabei die Welt der Gegenstände gegenüber; dem Subjekt der Erkenntnis fällt die Rolle zu, einen bestimmten Ausschnitt der Objektwelt zu bestimmen. Jaspers spricht in diesem Zusammenhang von Subjekt-Objekt-Spaltung: Die Subjekt-Objekt-Spaltung ist für den Erkennenden, so Jaspers, niemals durch ein vereinigendes Drittes, durch eine alles umfassende Synthese aufzuheben, wie es Hegel vorschwebte. Die der Subjekt-Objekt-Spaltung vorausliegende Welt des Umgreifenden, des voraussetzungslosen Einen entzieht sich immer schon der menschlichen Erkenntnis; sie gleicht einem Gedicht, das nicht entziffert werden kann. Menschliches Erkennen kann also nur einen Teilausschnitt der gesamten Wirklichkeit erfassen; das hat zur Folge, dass Weltanschauungen niemals eine umfassende, totale Interpretation anbieten können. Jaspers plädiert daher für "ein schwebendes Weltverständnis, in dem es keinen festen Halt gibt". Es stellt sich nunmehr die Frage, wie die Welt des Umgreifenden, die nicht durch menschliches Erkennen begreifbar ist, für den Einzelnen zugänglich, das heißt erfahrbar wird. Dies geschieht immer dann, so Jaspers, wenn der Einzelne die Erfahrung des Selbstseins anstrebt. Selbstsein ist dabei als ein Prozess vorzustellen -als ein ständiges Unterwegssein zu sich selbst. Dem Philosophierenden fällt nunmehr die Aufgabe zu, den Prozess des Selbstseins voranzutreiben. Dies geschieht durch das Erfahren von Grenzüberschreitungen, die den Kontext der vorgegebenen, feststehenden Welt des Faktischen und der Zweckrationalität sprengen, in die das Individuum "geworfen" wird.

Die Metapher des Meeres

Diese Transgressionen können in existenziellen Augenblickserlebnissen erfolgen, wie sie etwa der Mystiker erlebt; sie können sich auch in der existenziellen Kommunikation mit anderen Menschen - in einer intensiven Liebesbeziehung - ereignen; denn der Mensch ist auch ein Wesen, das die Kommunikation mit anderen sucht. "Ich muss veröden", bemerkte Jaspers, "wenn ich nur ich bin." Für die Möglichkeit, mit dem Bereich des Unbekannten, Offenen -mit der Transzendenz - in Berührung zu kommen, fand Jaspers die Metapher des Meeres. "Im Umgang mit dem Meer liegt von vornherein die Stimmung des Philosophierens", schrieb er in seinem Werk "Was ist Philosophie?". "Das Meer ist das Gleichnis von Freiheit und Transzendenz. Es ist wie eine leibhaftige Offenbarung aus dem Grund der Dinge. Das Philosophieren wird ergriffen von der Forderung, es aushalten zu können, dass nirgends der feste Boden ist, aber gerade dadurch der Grund der Dinge spricht."

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