Der Abend, an dem die Mauer fiel

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Nichts beschreibt das Chaos der DDR-Führung in den Novembertagen des Jahres 1989 so treffend wie diese Pressekonferenz am Abend des 9. November. Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros, abgestellt zur Information der Medien in den Wendetagen, verkündet die Reisefreiheit für DDR-Bürger, hat aber offenbar keine Vorstellung von der Dramatik einer solchen Entscheidung. Als ihn ein Journalist der italienischen Nachrichtenagentur ANSA fragt, ab wann denn die neue Regelung gelte, beginnt er nervös in seinen Unterlagen zu kramen und stottert hervor: „Es müsste Ihnen eine entsprechende Mitteilung zugegangen sein. Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort.“

Nach diesen Worten strömten tausende Ostberliner ungläubig zum Brandenburger Tor, um zu sehen, ob sich denn da tatsächlich was tue. Genauso taten es die Westberliner. In der Mitte beider Gruppen: Grenzbeamte ohne Anweisung oder Befehl. Der Kommandant der Truppen, Lothar Stein, heute Besitzer einer Imbissbude in Berlin, erzählt: „Wir empfingen unsere Befehle eigentlich nur noch aus dem Westfernsehen. Aus der Zentrale kam nichts mehr.“

Mauer-Domino

Das Westfernsehen meldete an diesem Abend in den Hauptnachrichten, die Grenze sei offen. Und daran hielten sich die Grenzer nun auch. Es ist eine der wenigen historischen Situationen, in denen das Volk auf beiden Seiten seine Politiker und Apparate noch überraschen, vielmehr völlig überrumpeln kann. Der bundesrepublikanische Regierungschef Helmut Kohl etwa weilt an diesem Abend gemütlich in Polen, als ihn die Nachricht erreicht. Dem Westberliner Bürgermeister Walter Momper fällt die Rolle zu, das historische Ereignis als erster zu kommentieren: „Die Deutschen sind nun das glücklichste Volk der Erde.“

Der sowjetische Botschafter ruft tags darauf empört Egon Krenz, den neuen Chef des DDR-Staatsrates, an und verlangt eine Erklärung. Moskau, so der Botschafter, sei „verwundert“. Krenz sagt: „Aber das war doch alles so mit Moskau abgestimmt.“ Doch der Botschafter entgegnet: „Nein, abgemacht war, dass Grenzübergänge im Süden vorübergehend geöffnet werden.“

Später wird Michail Gorbatschow das Gespräch zwischen ihm und dem Botschafter allerdings anders wiedergeben. Er habe den Fall der Mauer erwartet und habe am 10. November Gratulationen an die DDR-Führung ausrichten lassen. Er habe erkannt, dass von nun an das Volk das Sagen habe, nicht die Politik. Allerdings hofft Gorbatschow damals immer noch, dem Volk die Vorzüge eines Sozialismus neuer Prägung schmackhaft zu machen, was schon im Jahr 1991 kläglich scheitern wird.

Zumindest der Grenzkommandant Stein hat eine Vorstellung von der Tragweite des Ereignisses: Die Freudentränen auf Berlins Straßen, die Umarmungen, die Blumen, mit denen seine Grenzbeamten beschenkt werden und die sie auch annehmen, markieren eine Zeitenwende. „Ich habe zu mir gesagt, ich bin ab sofort sozial gefährdet. Es konnte ja nun nicht mehr so bleiben wie es war.“

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