Der alte Fuchs überrascht noch immer

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Norman Mailers neues, vorläufig nur in englischer Sprache vorliegendes, Buch behandelt das Geschehen der Evangelien - aus der Sicht von Jesus.

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Norman Mailers neues, vorläufig nur in englischer Sprache vorliegendes, Buch behandelt das Geschehen der Evangelien - aus der Sicht von Jesus.

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Norman Mailer wurde am 31. Jänner 75 Jahre alt. Am Anfang seiner nunmehr 50jährigen Schriftstellerlaufbahn stand der Tatsachenroman "Die Nackten und die Toten", in dem er von seinen Erlebnissen im Pazifik während des Zweiten Weltkriegs berichtete: ein Bestseller, der den damals 25jährigen zum berühmtesten amerikanischen Autor seiner Generation und zum Erfinder einer neuen Gattung machte, in der die Grenze zwischen Berichterstattung, also dem Handwerk des Journalisten, und Erfindung, dem Geschäft des Romanciers, verfließt. Schauplätze des Weltgeschehens blieben auch später Mailers Hauptinteresse. Polemisch fragte er in einem Buch 1967 "Warum sind wir in Vietnam?", und 1968 in "Armies of the Night" schilderte er den großen Protestmarsch der amerikanischen Jugend zum Pentagon, dem Verteidigungsministerium.

Aggressiv, kompromißlos, stets politisch wach, kann der Vielseitige, der sich auch als Filmemacher und Dramatiker einen Namen gemacht hat, stolz auf dreißig Werke zurückschauen. Falls er nicht weiterschreibt, wäre sein letztes, eben erschienenes Buch ein erstaunlicher Schlußpunkt.

"The Gospel According to the Son", derzeit noch nicht ins Deutsche übersetzt, lautet der Titel, also etwa "Das Evangelium nach dem Sohn". Der Ich-Erzähler ist Jesus. Er stellt sein Leben berichtigend dar, denn die vier Evangelisten hätten bisweilen maßlos übertrieben; ihre Erinnerung habe sie getäuscht, oder sie waren gar nicht Augenzeugen der Ereignisse: "So werde ich meinen eigenen Bericht geben. Jenen, die fragen, wie meine Worte aufs Papier kommen, sage ich: Nehmt es als ein kleines Wunder. Schließlich habe ich in meinem irdischen Leben so manches Wunder gewirkt!"

Das Buch bezieht seine Qualität nicht aus dem, was erzählt ist - das Leben Jesu -, sondern wie es erzählt wird. Wer einigermaßen des Englischen mächtig ist, kann sich ruhig an das Original heranwagen. Einfach und klar wird hier eine große Geschichte spannend erzählt: Zuerst die Jahre des Zimmermannslehrlings, der einer strengen jüdischen Sekte angehört, den Essenern. Hier weicht Mailer wie noch an einer zweiten Stelle von der Dogmatik ab. Daß Jesus zu den Essenern, also jener Gruppe von Juden gehört habe, deren Schriftrollen 1947 in den Höhlen von Qumran am Toten Meer gefunden wurden (eine der archäologischen Sensationen unseres Jahrhunderts), ist Zutat des Autors, ebenso wie die Behauptung, Jesus habe zwei leibliche Brüder gehabt.

Davon abgesehen, hält sich Norman Mailer strikt an die Evangelien, wo er zitiert. Aber er zitiert eben nicht nur, sondern läßt Jesus denken, fühlen, hören, sehen, Erfahrungen machen als Mensch, der ganz allmählich herausfindet, daß er eben mehr ist als ein Mensch. Die, die das glauben können, haben es leicht mit dem Buch. Für jene, denen der Glaube fehlt, lohnt sich die Lektüre trotzdem.

Das Buch ist - ohne jede theologische Überfrachtung - die Geschichte einer Selbstfindung. Jesus erfährt von Josef als 12jähriger, was es mit seiner Besonderheit auf sich hat. Er hat keinen leiblichen Vater. Schwer belastet ihn die Geschichte vom bethlehemitischen Kindesmord, der seinetwegen geschehen ist. Mit seiner Mutter ist das Verhältnis gespannt. Sie hat Angst um ihren Sohn, und er beleidigt sie einmal schwer, als er zu ihr sagt: "Weib, was habe ich mit dir zu schaffen." Neue Aspekte gewinnt Mailer dem Teufel ab: er ist sympathisch, intelligent und versucht Jesus, indem er Zweifel sät an der Allmacht jenes Wesens, das Jesus Vater zu nennen lernt.

Interessant auch, wie der Autor die Wunder präsentiert. Es ist ein allmähliches Herantasten an Fähigkeiten, die dem jungen Mann zunächst nicht bewußt sind. Als seine Mutter bei der Hochzeit zu Kanaa ärgerlich feststellt, daß der Gesellschaft der Wein ausgegangen ist, ißt Jesus eine einzige Traube, da wird das Wasser zu Wein und Maria merkt nicht, daß ihr Sohn das Mirakel bewirkt hat. Bei jedem Wunder zweifelt er an seiner Kraft. Überhaupt verleiht ihm Mailer jene Züge, die ihn zu einem realen Menschen machen: Angst vor den Mächtigen in Jerusalem, Juden wie Römern; sexuelle Attraktion gegenüber der schönen Ehebrecherin; Zorn auf die selbstgerechten Pharisäer und Schriftgelehrten; Empörung über die Reichen.

Die spannendsten Auseinandersetzungen hat dieser Jesus mit Judas, den er liebt ob seines aufrichtigen Kampfes für die Armen. Judas verrät ihn, weil er glaubt, Jesus selbst habe sich von den Armen abgewandt, indem er sich mit kostbarem Öl salben ließ. Schritt für Schritt, ohne Pathos, läßt Mailer diesen außerordentlichen Menschen Jesus seine Bestimmung erkennen: Liebe bis zum Äußersten, zur Selbstaufgabe.

Am Schluß des Buches kommt der Autor ohne Spektakel aus: Der zerrissene Tempelvorhang, das Erdbeben, die Sonnenfinsternis, das seien Zutaten der Chronisten gewesen. Und dann der Blick Jesu auf die Zeit zwischen seinem Erdenleben vor 2000 Jahren und heute. Er ist keineswegs trostlos. Durch ihn habe sein Vater einen großen Sieg errungen, wenn auch nicht den endgültigen Frieden unter den Menschen. Pontius Pilatus, der intelligente Römer, sagt in dem Buch einmal: "Im Frieden ist keine Wahrheit, und in der Wahrheit kein Friede."

Wie die Erzähler im Mittelalter die Geschichte von Artus und seiner Tafelrund immer wieder aufgriffen, ihr neue Gesichtspunkte abgewannen, sie in neue sprachliche Gewänder kleideten, so Norman Mailer hier, in der Gestaltung der bekanntesten Geschichte des Abendlandes.

Norman Mailer: The Gospel According to the Son. Little, Brown & Company, London 1998.

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