Der Ambivalente März ’38

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Am 12. März jährt sich der "Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich zum 75. Mal. Der öffentliche Diskurs darüber ist mittlerweile in der Normalität angekommen.

Für die Geschichtswissenschaft bietet der März 1938, die Eingliederung Österreichs in das nationalsozialistische Deutschland, schon lange nur noch in regionalgeschichtlichen Zugängen die eine oder andere Überraschung. Der Ablauf der Ereignisse, die fachwissenschaftliche Bewertung und die weltgeschichtliche Bedeutung sind stabil und weitgehend außer Streit gestellt.

Politisch war dies lange durchaus anders. Da gab und gibt es bis heute zumindest in zwei Bereichen Auffassungsunterschiede. Einerseits hängt viel von der Bewertung des Ständestaats ab, wo die Bandbreite vom Imitationsfaschismus bis hin zum Bollwerk gegen den Nationalsozialismus reicht. Und andrerseits reiben sich die Diskussionen an der Einschätzung der Ereignisse selbst, zwischen dem Bild von Österreich als dem ersten Opfer der nationalsozialistischen Aggressionspolitik und jenem der überwältigenden Begeisterung der Massen, die den "Anschluss“ als Befreiungsakt erlebten.

Da der "Anschluss“ von einer perfekten Medienmaschinerie begleitet wurde, haben wir alle starke Bilder im Kopf. Diese reichen von den Jubelbildern am Linzer Hauptplatz und in Graz bis zum Wiener Heldenplatz, wo Hitlers "Vollzugsmeldung“ der Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich einen zentralen negativen Gedächtnisort unserer Zeitgeschichte geschaffen hat. Daneben stehen die Fotos der "Reibepartien“, also vom entwürdigenden Zwingen der Entfernung der Ständestaatsparolen von den Gehsteigen durch die jüdische Bevölkerung Wiens. Und auch die ersten Häftlingstransporte nach Dachau sind fotografisch gut dokumentiert.

Hoffnung auf besseres Leben

Jubel stand also neben Verzweiflung, Erlösungshoffnung neben Angst und Demütigung. Nur eines waren die Ereignisse des März 1938 sicher nicht: Wohl kein Zeitgenosse konnte sie als bedeutungslos erleben. Sie griffen unmittelbar in die Lebensgestaltungen der Menschen ein und ließen niemanden unberührt.

Die Bandbreite war groß. Karl R. Stadler, Jahrgang 1913 und Wiener, die prägende Persönlichkeit meiner frühen akademischen Jahre, verteilte in diesen Tagen Flugblätter mit dem Aufruf für ein unabhängiges Österreich, obwohl er als Linker die Februarkämpfe von 1934 als brutale Niederwerfung der Arbeiterbewegung durch ein grausames Regime erlebt hatte. Mit seiner jüdischen Lebensgefährtin gelang ihm gerade noch die Flucht, erst nach Frankreich, dann nach England vor den Schergen der Nazis. Das Gegenbeispiel stellt meine Mutter dar. Als Jahrgang 1924 hatte sie im Kohlerevier von Köflach in der Steiermark erlebt, wie mein Großvater, ein Bekannter von Koloman Wallisch, wegen seiner Gesinnung jahrelang arbeitslos war. Für sie war der März 1938 die Hoffnung auf ein besseres Leben, und der Bund deutscher Mädchen bestätigte ihr diese Hoffnung bald durch Ferienlager, Ausflüge und Gemeinsamkeiten. Auch ihr Vater konnte wieder in die Grube einfahren, verdiente also wieder den Lebensunterhalt für die Familie.

Dreigeteilte Gesellschaft

Es steht außer Streit, dass die österreichische Gesellschaft in den Jahren vor 1938 dreigeteilt war. Da gab es das Lager der Regimetreuen, gestützt auf die katholische Kirche, auf einen Teil der Staatsdiener und auf konservative dörfliche Strukturen. Links davon stand die illegale Arbeiterbewegung, innerhalb derer sich große Teile nach dem Februar 1934 den aktivistischeren und konsequenteren Kommunisten zugewandt hatten. Viele führte der Weg nach Spanien in den Bürgerkrieg. Ein großer Teil hielt sich aber politisch zurück. Rechts vom Regime standen die (meist) illegalen Nationalsozialisten, eine junge, aktivistische Gruppe, der sich auch manche aus der ehemaligen Sozialdemokratie angeschlossen hatten. Sie unterwanderten die Exekutive und den Beamtenstand, fanden am Land in der ehemals deutschnationalen Intelligenz ihre Stützen und profitierten von antikatholischen Ressentiments und von einer Ablehnung des "Wasserkopfs“ Wien.

Diese Dreiteilung beschreibt quantitativ keine genaue Drittelung, sie steht aber wohl für die Tatsache, dass keine dieser Gruppen die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hatte. Das Regime musste also die Aussöhnung mit einer der beiden oppositionellen Gruppen suchen. Es traf, auch unter außenpolitischem Druck, vorerst die falsche Entscheidung. Man wandte sich erst nach links, als es definitiv zu spät war, um gemeinsam dem Bedrohungspotential des Nationalsozialismus einen wirkungsvollen Widerpart abgeben zu können.

Der 12. März 1938 war zweierlei: Er war eine militärische Invasion durch die Armee Hitlerdeutschlands, die unter Missachtung des Völkerrechts in einem einseitig aggressiven Akt die Grenze nach Österreich überschritten hat, wobei ihr das österreichische Heer einerseits aus Vernunft, anderseits aber bedauerlicherweise, da damit die Möglichkeit einer Symbolsetzung vergeben wurde, keinen Widerstand entgegensetzte. Die Ereignisse waren aber auch eine Erhebung von innen, und schon vor dem Eintreffen der deutschen Truppen war etwa in Graz die nationalsozialistische Machtübernahme vollzogen, was der Stadt den "Ehrentitel“ "Stadt der Volkserhebung“ eintrug. Österreich war also objektiv sowohl Opfer als auch Täter.

Nicht alles kam aus Deutschland …

Vieles, was wir heute mit der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus assoziieren, musste allerdings nicht aus Deutschland importiert werden. Eher umgekehrt: manche Verhaltensmuster hatten hier ihren ideologischen Ursprung. Der Antisemitismus war in Österreich etwa tief verwurzelt, mit einem Ursachenprofil, das sich vom Deutschen Reich unterschied. Dieses reicht weit in die Zeit der Monarchie zurück und hat religiöse, fremdenfeindliche, antikapitalistische, antisozialistische, antimoderne und rassistische Ursachen. Daher waren die straßenwaschenden Juden, die anderen Grausamkeiten, die politische Entrechtung und letztlich die Reichspogromnacht keine durch Berlin verordneten Verhaltensmuster, sondern Ereignisse, die von Österreichern (und unter den zynischen Beobachtungen durch viele) in besonderer Perfidie betrieben wurden. Die rasch einsetzenden "wilden“ Arisierungen waren ebenso kein Importartikel aus Deutschland.

Nach 1945 war es politisch opportun, die Opferrolle hervorzukehren und somit nicht nur die staatliche Souveränität, sondern auch die emotionale Abschiebung der Unmenschlichkeiten an die "Deutschen“ möglich zu machen. Aber diese Verdrängung musste sich mittelfristig rächen. Was in der Geschichtswissenschaft schon lange nicht nur diskutiert, sondern klargestellt wurde, brach sich in der sogenannten "Waldheimdebatte“ mit Wucht Bahn in den öffentlichen politischen Diskurs. All die Abgrenzungsbemühungen gegenüber dem "hässlichen Deutschen“, der dem gemütlichen, politisch uninteressierten Österreicher gegenüberstellt wurde, brachen in sich zusammen und machten unwiderruflich klar, dass sich Österreich auch seiner Mittäterrolle zu stellen hatte. Damit war nicht nur die Geschichtswissenschaft, sondern auch die österreichische Öffentlichkeit in der Ambivalenz der Ereignisse, die nun bereits ein Dreivierteljahrhundert zurückliegen, angekommen.

Der Autor ist Professor für Zeitgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz

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