Leeres Theater - © Foto: Pixabay

Der Anfang vor dem Anfang

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Anfänge genießen von jeher Aufmerksamkeit: Schöpfungserzählungen, Gründungsmythen, erste Sätze in Romanen. Wann aber fängt das Theater an?

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Anfänge genießen von jeher Aufmerksamkeit: Schöpfungserzählungen, Gründungsmythen, erste Sätze in Romanen. Wann aber fängt das Theater an?

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Der Jahresbeginn ist die Zeit der guten Vorsätze. Als Schwelle markiert ein neues Jahr einen Moment, an dem man sich etwas vornimmt, wie zum Beispiel mit dem Rauchen aufzuhören, sich mehr der Familie zu widmen, sich endlich von Facebook zu verabschieden. In diesem Sinne bedeutet ein Jahreswechsel immer auch eine Unterbrechung, eine Abweichung vom Gewohnten. Emphatisch ausgedrückt, bedeutet ein Jahreswechsel immer auch einen Neuanfang.

Anfänge genießen von jeher große Aufmerksamkeit. In der wahrscheinlich bekanntesten Anfangserzählung unserer westlichen Kultur, der Genesis, heißt es: "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. [...] Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht." Anfänge sind vor allem Akte der Teilung. Mit der Teilung in Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Tag und Nacht wird allgemeiner die Entstehung aus dem Nichts aufgerufen, die Teilung in ein Davor und Danach. Im Zusammenhang verschiedenster Gründungsnarrative - wie eben Schöpfungsgeschichte, das Entstehen kultureller Ordnungen oder Staatsgründungsmythen -bedeutet der Anfang das "Ins-Sein-Kommen" der Welt, des Menschen, der Gesellschaft oder des Staates. All diese Anfangsnarrative behaupten - nicht zuletzt aus Gründen, die Erzählbarkeit zu gewährleisten - einen Beginn jenseits unendlicher Rekursionen, gleichsam einen Ursprung, vor dem es nichts gibt.

Aller Anfang ist schwer

Im realen Leben aber ist solch ein Nullpunkt nicht zu haben. Da weisen Neuanfänge, so sehr sie auch beschworen werden mögen, immer schon Züge eines Spiels auf, das bereits läuft. Allzu häufig enden daher die guten Vorsätze, der vermeintliche Beginn des Neuen, bloß als Spiel von Differenz und Wiederholung. So gilt, was Ovid einst dichtete - omne initium difficile est -, auch für den Volksmund, dass nämlich aller Anfang schwer ist.

Nur in der Fiktion scheint der Anfang etwas weniger prekär zu sein. Literatur- und Film-, aber kaum Theaterwissenschaftler beschäftigen sich mit der Frage, über welche Konzepte, Semantiken und Verfahren Anfänge modelliert werden, welche Funktionen ihnen zukommen usw. Dabei genießt vornehmlich der erste Satz eines Romans hohe Aufmerksamkeit. Als besonders exponierter Textteil wird ihm eine kaum zu überschätzende Bedeutung beigemessen. Ihm wird die Fähigkeit bescheinigt, in seinem syntaktischen Gefüge nicht weniger als seine Welt zu umschließen sowie die generativen Gesetze, nach denen diese erzählt wird.

Egal ob man diesen Glauben an die magische Wirkung/Aufgabe des ersten Satzes teilen will oder nicht - oder ob man eher der Meinung ist, der Anfang könne auch beiläufiger, ja müsse viel zufälliger sein -, er ist klar markiert. Und seit Aristoteles in seiner Poetik das Kunstwerk definiert hat als ein Ganzes, das Teile hat, nämlich Anfang, Mitte und Ende, gilt hier der Anfang als das, was nach dem Nichts kommt. Der Anfang als Grenze des Narrativs ist demnach auf das Davor nur sehr vage bezogen, mit dem aber, was auf ihn folgt, steht er in enger Verbindung. Aus ihm ergebe sich "aus Notwendigkeit oder in der Regel", wie es bei Aristoteles heißt, alles Weitere.

Der Anfang eines Romans oder eines Films erscheint so als autonomer, radikaler Akt eines selbstbestimmten Subjekts. Als künstlerische Setzung ist der Anfang die Initiation zu einer eigenen Welt, eine (mehr oder weniger) voraussetzungslose Entscheidung, mit der eine allgemeine Idee und Absicht konkreter greifbar wird und gleichzeitig alle anderen Absichten, die sich in zahllosen anderen Handlungen und Ausdrucksformen realisieren könnten, außer Kraft gesetzt werden. Der Anfang ist eine Tabula-rasa-Situation, die die Fiktion von der Wirklichkeit ablöst und aus einer Vielfalt von Möglichkeiten, von potentiellen Variationen und Gestaltungen eine eingeschränkte Version verbindlicher Geltung gewinnt.

Wenn man dazu noch berücksichtigt, dass ein einmal gesetzter Anfang häufig auch Richtung und Ebene seines ästhetischen Verfahrens festlegt, kann man sagen, dass sich im Mikrokosmos des Anfang(en)s schon der Makrokosmos des Romans oder des Films widerspiegelt. In diesem Sinne ist Aristoteles' Wort zu verstehen, wonach der Anfang schon die Hälfte des Ganzen sei.

Bestimmte Auftaktformeln

Mit Blick auf das Theater erscheint die Frage des Anfang(en)s noch etwas komplizierter. Anders als der Roman ist im Theater keine erste Seite mit einem ersten Satz sichtbar, so dass sich der Anfang rein äußerlich identifizieren ließe. Selbst der erste gesprochene Satz kann nicht so ohne Weiteres als Anfang verstanden werden. Ganz abgesehen davon, dass es Formen von Theater gibt, die nicht auf Literatur gründen und in denen nicht gesprochen wird - der Inszenierungstext, jener der Aufführung vorausgehende Gesamtplan, der die intentionale Organisation von Zeichen und Zeichensystemen festlegt, kann auch vorsehen, dass lange nichts gesagt wird. Auch Bühnenbild, Beleuchtung, Musik, nonverbale Handlungen gehören zur erzählten Welt eines Theaterstückes und können den Anfang machen.

Naheliegend wäre, den Anfang da zu vermuten, wo das Theater auf bestimmte Auftaktformeln zurückgreift, wie zum Beispiel das Verdunkeln des Zuschauerraums oder das Heben des Vorhangs, um nur zwei aus dem reichen Repertoire zu nennen. Tatsächlich ist in vielen konventionelleren Formen vor allem des Sprechtheaters noch immer der Vorhang die Szene des Anfang(en)s.

Aber wie ist der Anfang zu denken in Formen, in denen die Theatermacher und Performer einen klar abgrenzbaren Anfang verweigern, sich die Schauspieler schon auf der Bühne befinden, wenn das Publikum den Saal betritt, oder sich die Lichtverhältnisse nicht ändern, die fragile Grenze zwischen der realen und dramatischen Welt bewusst verwischt wird, wie etwa in den Post-Formen des Theaters, dem postdramatischen oder postspektakulären Theater, in denen es im Spiel zwischen Autor, Regisseur, Schauspieler und Zuschauer nicht darum geht, ihn, den Zuschauer, teilnehmend in die Welt der Fiktion hereinzuziehen, ihm einen Zugang zum Erzählten /Gezeigten nahezubringen?

Dynamisches Geschehen

Die Tatsache, dass in der theaterwissenschaftlichen Forschung der Inszenierungstext als Grundlage der Analyse - und also auch für die Bestimmung des Anfang(en)s - umstritten ist, macht die Sache nicht einfacher. Der Inszenierungstext, so der Einwand, bringe das Theater in eine problematische Nähe zu einem konstanten, in sich geschlossenen Werkbegriff, statt es als stets variables, dynamisches Geschehen zu begreifen, das sich erst in seiner Grundsituation der leiblichen Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren konstituiert.

Wenn man diesen performativen, ereignisorientierten Begriff von Theater folgt, verstanden als Austauschverhältnis von dem, was zwischen der Bühne und dem jeweils variablen Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Reaktionsvermögen des anwesenden Publikums geschieht, muss auch die Frage in Bezug auf den Anfang anders gestellt werden. Sie lautet dann nicht mehr unbedingt: Was, wann, wie ist der Anfang?(kann an jedem Abend anders sein), sondern grundsätzlicher: Wer macht den Anfang? Denn so betrachtet kann es nicht als sicher gelten, dass 'die Bühne' den Anfang macht. Andersherum ausgedrückt heißt das, auch der Zuschauer als mitgestaltender Faktor ist als 'Autor' des Anfang(en)s durchaus in Betracht zu ziehen.

Hier kommt der Begriff der Pre-Performance ins Spiel. Darunter versteht man den komplexen Prozess der Informationsakkumulation beim Zuschauer, der aus Paratexten des Theaters (Programmheft, Kritiken, Vorkenntnisse über Stück, Darsteller, Regisseur etc.) Erwartungshaltungen generiert, die nicht nur sein Theatererlebnis beeinflussen, sondern schon für seine Wahl mitverantwortlich sind. Mit Blick auf die Rolle dieser Epi-und Peritexte kann paradox gesagt werden, es gibt einen Anfang schon vor dem Anfangen.

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