Der Anwalt der historischen Vernunft

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Er gilt als Vater der Geisteswissenschaften und entwarf eine ganzheitliche Lebensphilosophie. Zum 100. Todestag des deutschen Philosophen und Historikers Wilhelm Dilthey.

Wilhelm Dilthey zählt zu den bedeutendsten Philosophen des 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu den heute viel zitierten Denkern wie Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Karl Marx ist Dilthey hauptsächlich in der akademischen Philosophie bekannt. In seinem umfangreichen Werk, das in zwanzig Bänden vorliegt, hat er eine Umwertung der metaphysischen Welt vorgenommen, die nicht so radikal wie Friedrich Nietzsches Umwertung aller Werte ausgefallen ist, aber dennoch als Entwurf einer Philosophie zu sehen ist, die eine neue Perspektive für das philosophische Denken eröffnete. Dilthey ging es in seiner Philosophie um eine Hermeneutik der gesamten menschlichen Existenz. Unter Hermeneutik verstand er "das Verstehen dauernd fixierter Lebensäußerungen“, das heißt, er wollte die gesamten menschlichen Erfahrungen in ihrer geschichtlichen Entwicklung darstellen. Dies führte ihn zur Konzeption einer Lebensphilosophie, auf die sich so unterschiedliche Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer oder Helmuth Plessner beriefen.

Ruhige Universitätskarriere

Geboren wurde Wilhelm Dilthey am 18. November 1833 in Bieberich bei Wiesbaden. Dem Wunsch seines Vaters folgend, der als calvinistischer Theologe wirkte, studierte er vorerst Theologie, später Philosophie, Geschichte und Philologie. Nach einer kurzen Tätigkeit als Gymnasiallehrer entschied er sich für eine ruhig verlaufende Karriere als Universitätslehrer für Philosophie, die ihn nach Basel, Kiel, Breslau und nach Berlin führte. 1870 erschien der erste, mehr als 1500 Seiten umfassende Band von "Das Leben Schleiermachers“, mit dem er seinen Ruf als hervorragender Geisteswissenschaftler in der Fachwelt begründete. 1883 publizierte er den ersten Band der "Einleitung in die Geisteswissenschaften“, in der er sich um eine historische und systematische Grundlegung der Geisteswissenschaften bemühte, die er den Naturwissenschaften entgegensetzte. Auf Anregung von Edmund Husserl nahm Dilthey später einige Korrekturen in seinen Arbeiten vor. Mit der Veröffentlichung der Studie "Das Erlebnis und die Dichtung“ wurde er einer breiteren literarisch interessierten Öffentlichkeit bekannt. Am 1. Oktober 1911 verstarb Dilthey in Seis in Südtirol.

"Der verdünnte Saft von Vernunft“

Der Ausgangspunkt von Diltheys philosophischem Projekt ist seine Ablehnung der Erkenntnistheorie, die in der Geschichte der abendländischen Tradition eine zentrale Rolle gespielt hat. Als einen der Begründer der Erkenntnistheorie ortete Dilthey René Descartes, der sich als ein Wesen sah, "dessen Natur nur im Denken besteht, und das, um zu sein, von keinem materiellen Ding abhängt“. Das Denken erhielt somit den Status eines eigenen, von der Körperwelt abgetrennten Seins. Aus dieser Schlussfolgerung ergab sich die bekannte "Zwei-Substanzenlehre“ des Descartes: Der ausgedehnten Materie oder Objektwelt, der res extensa, steht die res cogitans, das denkende Ich, gegenüber. Dilthey distanzierte sich vom Primat der Erkenntnis, in dem "nicht wirkliches Blut rinnt, sondern nur der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit“. Dieser Reduktion des Menschen auf das bloße cogito stellte Dilthey seine Lebensphilosophie entgegen, in der "nicht die in der Luft schwebende Evidenz des Denkens die Grundlage der Wissenschaft bildet, sondern Wirklichkeit, volle, uns nächste und allerwichtigste Wirklichkeit“. Die Umsetzung dieser Prämisse verfolgte Dilthey zeit seines Lebens in der Darstellung der historischen Vernunft, die für ihn die Grundlage für die Geisteswissenschaften bildete. Das Ziel dabei war das Verstehen des menschlichen Lebens, das er als Gesamtheit von Emotionen, Trieben und auch Denken verstand. Auch die gesellschaftlichen, soziologischen und ökonomischen Komponenten ließ Dilthey nicht außer Acht. So verglich er in einer Passage, die an die gesellschaftskritischen Ausführungen von Karl Marx erinnert, die Gesellschaft mit einem großen Maschinenbetrieb, in der der Arbeiter "ein Leben hindurch an einem einzelnen Punkte dieses Betriebes beschäftigt ist, ohne die Kräfte zu kennen, welche ihn in Bewegung setzen“. Dilthey befreite den Menschen aus dem reduktionistischen Gefängnis der Erkenntnisphilosophie und bettete ihn in den konkreten Geschichts- und Kulturzusammenhang ein, in dem sich der Mensch bewegt. Befreit wurde das Individuum auch von der metaphysischen Zwangsjacke, die von einer Systemphilosophie, einer Religion oder einer parteipolitischen Ideologie konzipiert wird.

Einen wichtigen Stellenwert in der Philosophie Diltheys nahm der Begriff der "Innerlichkeit“ ein, den er im Zusammenhang mit "innerer Erfahrung“ oder "Erlebnis“ verwendete. Gemeint war damit nicht ein eskapistischer Rückzug aus der empirischen Welt in eine meditative Haltung, die schon Augustinus empfahl, sondern das Zusammenspiel von psychischen und physischen Faktoren, die das menschliche Leben bestimmen. Diese Welt- und Selbsterfahrung entzieht sich den von den Naturwissenschaften propagierten methodischen Beschreibungen. Die naturwissenschaftlichen Erklärungsversuche zeichnen sich nach Dilthey dadurch aus, dass sie sich an die äußere Beobachtung klammern, die sie an Hand von Modellen klassifizieren. Außerdem stehen sie ihrem Forschungsobjekt neutral gegenüber, wie es bei psychologischen Testverfahren oder Tierversuchen üblich ist. In den Geisteswissenschaften hingegen, wie sie Dilthey versteht, herrschen Anteilnahme, Sympathie, Wohlwollen und Einfühlungsvermögen vor. Einzelne Vollzüge, wie Fühlen, Wollen oder Denken werden dabei nicht isoliert betrachtet. Sie fungieren als ein ständig oszillierendes Ganzes, das nur von der Naturwissenschaft analytisch getrennt wird.

Ganzheitliche Erfahrung

Die Einsicht beschrieb Dilthey als das Revolutionäre seines Denkens: "Diese ganze, volle unverstümmelte Erfahrung ist bisher noch niemals dem Philosophieren zugrunde gelegt worden“, notierte er. Die ganzheitliche Erfahrung bezeichnete er als "Innewerden“, in dem noch nicht zwischen objektiver Außenwelt und subjektiver Erfahrung unterschieden wird, sondern vielmehr ein Inhalt ohne Unterscheidung steht. Ein Beispiel für solch ein "Innewerden“ ist ein intensiv erlebtes Konzert, in dem diese Einheit erlebt wird. Spuren von Diltheys "Innewerden“ finden sich dann in der Philosophie des 20. Jahrhunderts: Martin Heideggers Begriff "Inder-Welt-Sein“ meint genau die ungeschiedene Befindlichkeit des Individuums. Aber auch in der Literatur taucht das "Innewerden“ auf: Ein eindrucksvolles Beispiel dafür findet sich in Marcel Prousts Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, wo der Erzähler durch den Geschmack eines Kuchens - der Madeleine - an seine Jugendzeit erinnert wird: "Sobald ich den Geschmack jener Madeleine wiedererkannt hatte“, so der Erzähler, "trat das graue Haus mit seiner Straßenfront hinzu, und mit dem Haus die Stadt und der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte.“

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