Der christliche Osten: reiche Vielfalt

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Hinter dem Begriff "Ostkirchen" steht ein breites Spektrum an Konfessionen mit ihrer je ganz eigenen Geschichte, Tradition und Spiritualität. Eine theologische Erkundung.

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Hinter dem Begriff "Ostkirchen" steht ein breites Spektrum an Konfessionen mit ihrer je ganz eigenen Geschichte, Tradition und Spiritualität. Eine theologische Erkundung.

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"Dort sehe ich unsere Freunde aus der Orthodoxen Kirche, für uns recht schwer zu verstehen, als ob sie in einen gewissen Nebel zu entschwinden drohten." So beschrieb der reformierte Theologe Karl Barth die zur Gründungsversammlung des Weltkirchenrates 1948 anwesenden Ostkirchen. Tatsächlich scheint sich hier im Westen wenig geändert zu haben. Obwohl die Ostkirchen längst durch Migration und Emigration aus den Heimatländern im Westen angekommen sind und in der Europäischen Union mit Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Estland mehrheitlich orthodox geprägte Länder Mitgliedsstaaten sind, werden die Ostkirchen als fremd erfahren. Selbst das "katholische" Polen hat über eine Million orthodoxe Christen. Ebenso gibt es beispielsweise eine finnischorthodoxe Kirche, wo man herkömmlicherweise skandinavische Lutheraner vermuten würde. Die Orthodoxie gehört zweifellos zu Europa, wie auch Europa eine Verantwortung für den Orient hat, wo die Wiege des Christentums steht.

Kulturelle und spirituelle Vielfalt ist ein Wesensmerkmal des Christentums, das sich von Anfang an nach Ost und West ausgebreitet hat. Während im Westen die ersten Prägungen in den romanischen, keltischen und germanischen Kulturräumen erfahren wurden, gab es im Osten die Begegnung mit der griechisch-slawischen Welt sowie den Kulturen des Orients von Äthiopien und Ägypten über den Nahen Osten bis in den Kaukasus und entlang der Seidenstraße von Persien bis nach Zentralasien, Indien und China.

Die Vielfalt der Ostkirchen mag zunächst verwirren. Sieht man aber, welche Kirchen untereinander in Gemeinschaft stehen, dann wird mit vier Kirchenfamilien die Lage übersichtlicher.

ORTHODOXE KIRCHE BYZANTINISCHER TRADITION

Die größte Ostkirche ist zweifellos die orthodoxe Kirche, die in der byzantinischen liturgischen Tradition steht. Es ist dies jenes Christentum, das sich vorwiegend im griechisch geprägten Osten des Römischen Reiches ausbreitete. Charakteristisch ist die Struktur von selbstständigen (autokephalen) Kirchen, die jedoch miteinander in voller kirchlicher und sakramentaler Gemeinschaft stehen und sich so als eine orthodoxe Kirche verstehen.

Dieses Gemeinschaftsprinzip ist seit den Anfängen gewachsen. Mit und nach Kaiser Konstantin (306-337) erhielt die Kirche im Römischen Reich eine feste Struktur in Angleichung an die staatliche Provinzverwaltung. Dabei bildete sich auch ein unterschiedlicher Rang der Bischofssitze heraus. Auf dem Konzil in Nicäa (325) wurden die Vorrechte der Oberbischöfe von Rom, Alexandrien und Antiochien ausdrücklich hervorgehoben. Das Konzil von Konstantinopel (381) reihte die neue Hauptstadt Konstantinopel (Neu-Rom) an die zweite Stelle. Schließlich wurde auf dem Konzil von Chalcedon (451) Jerusalem hervorgehoben.

Diese fünf Patriarchate - Rom, Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem -bildeten in dieser Reihenfolge die altkirchliche "Pentarchie". Dem Bischof von Rom wurde innerhalb dieser Gemeinschaft die Funktion eines "Ersten unter Ranggleichen" (primus inter pares) zuerkannt. Gemäß dieser selbstständigen Struktur entstanden in den folgenden Jahrhunderten der Missionierung der unteren Donauländer, des Balkans und der slawischen Völker weitere autokephale Kirchen. Heute bilden 14 selbständige Kirchen den lebendigen und spirituell reichen kirchlichen Organismus der orthodoxen Kirche, deren primus inter pares der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel ist. Es hat aber keine selbständige Kirche das Recht, sich in die inneren Angelegenheiten der anderen Kirche einzumischen. Auch das jeweilige Oberhaupt (Patriarch oder Erzbischof) wird selbst gewählt.

Die Trennung zwischen der orthodoxen und katholischen Kirche war das Ergebnis eines jahrhundertelangen Entfremdungsprozesses, der schon in der Spätantike begann. Oft wird das Jahr 1054 als Trennungsjahr genannt. Aber dies ist nicht mehr Stand gegenwärtiger Ostkirchenforschung, denn die damaligen gegenseitigen Verurteilungen waren nur ein Höhepunkt der Auseinanderentwicklung. Es gab dabei keine wechselseitige Exkommunikation der Kirchen als solche. Ein genaues Trennungsjahr kann nicht ausgemacht werden. Der vierte Kreuzzug mit der Eroberung Konstantinopels (1204) stellt eine weitere Beziehungskatastrophe dar. Und ab dem 17. Jahrhundert scheint sich das wechselseitige Unverständnis zu verfestigen.

Deshalb haben Patriarch Athenagoras I. und Papst Paul VI. 1965 in einem herausragenden Versöhnungsakt die sogenannten Exkommunikationen von 1054 auch nicht "aufgehoben", sondern "aus dem Gedächtnis und der Mitte der Kirche" getilgt.

ORIENTALISCH-ORTHODOXE KIRCHEN

In ihrem spirituellen Erbe und ihren liturgischen Traditionen ausnehmend reich und vielfältig ist die Familie der fünf orientalisch-orthodoxen Kirchen (koptisch, syrisch, armenisch, Malankara, äthiopisch). Sie haben alle eine eigene Sprache, Schriftkultur, theologische und liturgische Tradition, sind aber trotz ihrer völligen Unabhängigkeit voneinander in sakramentaler Gemeinschaft. Auch wenn sie heute im zumeist muslimischen und hinduistischen Kontext Minderheiten darstellen, können sie jeweils kirchenhistorische Superlative aufweisen. In der Wüste Ägyptens und im Herzen der koptischen Kirche liegen die wichtigsten Wurzeln des christlichen Mönchtums und die Quellen des christlichen Glaubensbekenntnisses. Das Syrische ist wiederum ein Dialekt des Aramäischen, der Sprache Jesu, das in der syrisch-orthodoxen Kirche immer noch gesprochen und in der Liturgie gepflegt wird. Armenien war ab dem Jahr 301 der erste christliche Staat der Welt und zeigt eine eigene kaukasische kirchliche Tradition. Die Malankara-orthodoxe Kirche ist eine Erbin der indischen Thomaschristen des ersten Jahrhunderts, die die Einwurzelung des Evangeliums in Südasien darstellen. Schließlich muss die äthiopische Kirche als die einzige genuine schwarzafrikanische Kirche bezeichnet werden, die ihre Wurzeln in der Spätantike hat und nicht aus späteren evangelischen und katholischen Afrikamissionen hervorgegangen ist.

Gemeinsam ist den orientalisch-orthodoxen Kirchen die Ablehnung der christologischen Entscheidung des Konzils von Chalcedon (451; Zwei-Naturen-Lehre -"unvermischt und ungetrennt"). Lange wurden die Anti-Chalcedonier als "Monophysiten" bezeichnet, was jedoch theologisch falsch ist. Monophysitisch würde heißen, dass nur eine Natur Jesu Christi, und zwar die göttliche, betont würde. Die Quellenforschung zeigt jedoch auf, dass dies nicht der Fall ist. Dazu haben auch ganz wesentlich die ökumenischen Konsultationen der von Kardinal König gegründeten Stiftung Pro Oriente beigetragen.

DIE KIRCHE DES OSTENS

Das Christentum, das sich östlich des Römischen Reiches entfaltete, wurde schon in der Antike "Kirche des Ostens" genannt. Es wurde im Mittelalter zur größten Missionskirche und breitete sich entlang der Seidenstraße bis nach Zentralasien und China aus. Mongolenstämme wie die Keraiten und Öngüt waren im Mittelalter christlich.

Westliche Reiseberichte wie jene Marco Polos beschreiben phantastische Inkulturationsprozesse. So hatten die Christen dieser (semi-)nomadischen Völker ein Kirchenzelt und einen Sattel als Altar. Da es in der mongolischen Steppe keinen Weinanbau gab, wurde Stutenmilch statt Wein zur Eucharistiefeier verwendet. Lange wurde diese Kirche der Häresie des "Nestorianismus" bezichtigt, d. h. ihr wurde unterstellt, sie trenne Gottheit und Menschheit in Jesus Christus. Dies ist allerdings theologisch unrichtig, wie ebenfalls u. a. die ökumenische Arbeit der Stiftung Pro Oriente aufzeigen konnte.

DIE KATHOLISCHEN ("UNIERTEN") OSTKIRCHEN

Die letzte Gruppe bilden jene Ostkirchen, die in voller Gemeinschaft mit Rom stehen. Für die katholische Kirche sind die oft stiefmütterlich behandelten katholischen Ostkirchen ein wichtiges Zeichen, dass das Christentum wesentlich vielfältiger und nicht allein auf den Westen reduzierbar ist. Die Kirche Jesu Christi muss mit "beiden Lungenflügeln atmen", der Ost-und Westkirche, um ein Bild Johannes Pauls II. aufzugreifen.

Der Autor ist Leiter des Zentrums zur Erforschung des Christlichen Ostens der Universität Salzburg

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