Der ehrlichste Lügner des Jahrhunderts
Gewiß nicht das letzte, aber ein besonders aufschlußreiches Buch über Albert Speer: Die Vernehmungsprotokolle und Selbstzeugnisse des Sommers 1945.
Gewiß nicht das letzte, aber ein besonders aufschlußreiches Buch über Albert Speer: Die Vernehmungsprotokolle und Selbstzeugnisse des Sommers 1945.
Keiner von denen, die halfen, Hitlers Willen zu vollstrecken, hat über seine Handlungen und Motive später so offen gesprochen wie Hitlers Architekt und späterer Reichsminister für Bewaffnung und Munition Albert Speer. Freilich: Hätte er als Angeklagter im Nürnberger Prozeß gesagt, was er über die Behandlung der aus ganz Europa verschleppten Zwangsarbeiter gewußt hatte, wäre er kaum mit dem Leben davongekommen. Er war der Sympathischste auf den beiden Anklagebänken. Er und der freigesprochene Hjalmar Schacht, Hitlers Finanzgenie, überragten an Intelligenz alle anderen, abgesehen von Göring.
Es gelang Speer, das Gericht von der Echtheit seiner Schuldeinsicht zu überzeugen. Daß er in der letzten Kriegsphase versucht hatte, die von Hitler befohlene Vernichtung aller deutschen Infrastrukturen zu verhindern, ist historische Tatsache. Daß er vorher mit allen Kräften die deutsche Kriegsmaschine auf Touren gebracht hatte, ebenfalls. Auch die Behauptung, er habe zuletzt Hitler und die anderen Insassen des Bunkers unter der Reichskanzlei durch Einleitung von Giftgas um die Ecke bringen wollen, diente seiner Verteidigung. Jahrzehnte später räumte er ein, daran nur gedacht zu haben.
Neues Material über Albert Speer. Gibt des Teufels Architekt noch Rätsel auf? Wissen wir nicht längst genug über den Mann, der nach dem Zweiten Weltkrieg die große Wende vollzog? Er wurde nach Verbüßung seiner 20 Jahre zur großen Auskunftsperson über das Dritte Reich. Als Mitglied von Hitlers engster Umgebung hatte er genug innere Distanz entwickelt, um die Position des kritischen Beobachters einzunehmen. Seine "Erinnerungen" und "Spandauer Tagebücher" wurden zu den wichtigsten Quellen über Hitlers Privatleben.
Noch vor dem Nürnberger Prozeß, der im Herbst 1945 begann, war Speer eingehend verhört und zur Niederschrift seines Wissens über Hitler veranlaßt worden. Unter seinen Gesprächspartnern war der spätere Wirtschaftsprofessor Kenneth Galbraith. Das Material wurde zwar von Hugh Trevor-Roper für sein berühmtes Buch über Hitlers letzte Tage eingesehen, aber nie veröffentlicht. Es schlummerte teils in den Kartons einer Außenstelle des britischen Imperial War Museums, teils im Nachlaß Speers im deutschen Bundesarchiv in Koblenz. Der Historiker Ulrich Schlie hat diese Schätze nun gehoben und veröffentlicht: "Albert Speer: Alles, was ich weiß - Aus unbekannten Geheimdienstprotokollen vom Sommer 1945". In einem eigenen Beitrag rekapituliert er die Biographie Speers und ergänzt sie kritisch.
Zur NS-Geschichte bringt das Buch, abgesehen von einigen hübschen Einzelheiten über die Streitigkeiten der NS-Bonzen, wenig Neues. Umso interessanter sind die Einblicke in Speers Entwicklung als Zeitzeuge, die sich da auftun. Vor allem raubt das Buch der Sphinx des Dritten Reiches ihr größtes Geheimnis: Das ihrer Reue. Davon ist nämlich bei Speer vor seiner Einlieferung ins Nürnberger Gerichtsgebäude noch nichts zu merken. Monate nach Kriegsende müßten ihm aber die Verbrechen an Juden, anderen KZ-Insassen und den Fremdarbeitern, die dem Rüstungsminister unterstellt gewesen waren, bereits bekannt geworden sein.
In Nürnberg wurde die Reue zum Kern einer genialen Verteidigungsstrategie. Nach der Entlassung aus Spandau wurde sie in Verbindung mit seinem Insiderwissen zur Basis einer einzigartigen Karriere als Autor zweier Super-Weltbestseller. Nun hat Speer dieses Wissen selbstverständlich mit anderen geteilt. Sein Erfolg basiert auf der Brillanz seiner Bücher, auf der distanzierten Position des Beobachters und der Selbstreflexion. Albert Speer war aber nicht nur ein fähiger, sondern auch ein außergewöhnlich ehrgeiziger Mann. Als der Berliner Oberbürgermeister Lippert bei der Umsetzung der megalomanischen Nazi-Bauprogramme nicht genug spurte, traf ihn, so Schlie, "der Bannstrahl des Architekten, und Lippert wurde 1940 ohne Umschweife von Hitler seines Postens enthoben. Albert Speer duldete keinen Widerspruch. Wer ihm in die Quere zu kommen drohte, wurde beiseite geschoben."
Als Zeitzeuge machte er eine auch finanziell kaum weniger glanzvolle Karriere als unter Hitler, aber diesmal eine durchaus verdienstvolle. Seine Bücher werfen ein Licht ins Dunkel von Hitlers Psyche. Offen bleibt die Frage nach Art und Echtheit von Speers Reue. Ihr ging Gitta Sereny mit ihrem 1995 erschienenen Werk "Das Ringen um die Wahrheit" auf den Grund. Auch das Buch von Schlie ist vor allem unter diesem Gesichtspunkt interessant. Viele wollten dem Geheimnis auf die Spur kommen, auch ich. Fasziniert von Speers Büchern, ließ die Frage nach der Echtheit dieser Reue und Selbstreflexion, nach Speers Selbstbezogenheit, auch mich jahrelang nicht los. Ich bat Speer daher 1975 anläßlich des Erscheinens der "Spandauer Tagebücher" um ein Interview für den ORF. Zuvor besorgte ich mir historische Tondokumente vom Nürnberger Prozeß aus dem deutschen Rundfunkarchiv, wo man mir sagte: "Sie werden es schwer haben. Jungen Menschen gegenüber ist Speer sehr aufgeschlossen, aber bei Leuten, die den Krieg noch erlebt haben, macht er zu."
Ich stellte ihm daher die entscheidende Frage am Ende des Gesprächs: "Sie reflektieren in den zwanzig Spandauer Jahren immer wieder die Härte des Gefängnislebens und Ihre Haftbedingungen. Habe ich die eine, einzige Stelle, an der Sie sich auch Gedanken über die Lebensbedingungen der Gefängnis- und KZ-Insassen unter Hitler machen, übersehen - oder fehlt eine solche Stelle?" Eine solche Stelle, antwortete Speer, sei nicht im Buch. Warum nicht? Man könne das ja nicht vergleichen.
"Wieso nicht?"
"Diese Gefangenen waren ja damals in einer viel besseren Situation."
"Wieso das?"
"Sie wußten, daß sie schuldlos waren. Ich aber mußte mit meiner Schuld leben."
"Alles, was ich weiß" bestätigt den Eindruck jenes Gesprächs, nämlich den einer beschönigenden Selbststilisierung. Es fällt auch ein schmaler, aber scharfer Lichtkegel auf die Entstehung der beiden großen Erfolgsbücher. Daß Speer der Journalist und spätere Hitler-Biograph Joachim Fest sowie der Verleger Wolf Jobst Siedler zur Hand gingen, war bekannt. Wie sehr sie dabei das Marketing einer ethischen Position mitgestalteten, war nicht bekannt, geht aber aus einem bezeichnenden Detail bei Schlie hervor. Im Gespräch mit dem vernehmenden Captain Hoeffding im Sommer 1945 konnte sich Speer "an die Umstände, geschweige denn an das genaue Datum der Reichskristallnacht vom 9. November 1938 nicht erinnern". Er "brachte im Rückblick das von ihm nicht näher spezifizierte Ereignis lediglich mit einem Kurswechsel in der Judenpolitik in Verbindung, um dann, auf den präzisierenden Einwurf von Hoeffding hin, von einer ,Überraschungsaktion von Goebbels' zu sprechen, bei der über die Reichspropagandaleitung die Volkswut organisiert worden sei", was Schlie wohl mit einiger Berechtigung als Bestätigung "jener mitläuferischen Haltung des Beiseitestehens" wertet.
Schlie zitiert aber nicht korrekt, daß der Buchautor Speer angesichts der rauchenden Trümmer "gespürt haben will, ,daß etwas begann, was mit der Vernichtung einer Gruppe unseres Volkes enden sollte'". In den "Erinnerungen" (S. 125) steht es anders: "Habe ich für einen flüchtigen Augenblick wenigstens gespürt, daß etwas begann, was mit der Vernichtung einer Gruppe unseres Volkes enden sollte? Daß es auch meine moralische Substanz veränderte? Ich weiß es nicht." Speer soll, so Schlie, die Passage über die Pogromnacht "erst auf Intervention seiner verlegerischen Berater Siedler und Fest" eingefügt haben. "Wie schon bei der Schilderung der Ereignisse des sogenannten Röhmputsches" sei "Speers Sensibilität mit Blick auf die Reichskristallnacht im Sommer 1945 deutlich weniger ausgeprägt, als er im Rückblick der ,Erinnerungen' glauben machen will." Nun, er hatte ja auch 20 Jahre Zeit zum Nachdenken.
Die "Vernichtung einer Gruppe unseres Volkes" statt einfach der Juden ist tatsächlich nicht Speer-Sprache, sondern verquollene deutsche Alibisprache. Trockene, etwas unbeholfene Speer-Sprache pur lernt der Leser der Vernehmungen und Niederschriften von 1945 kennen. Der Abstand gegenüber den hervorragend geschriebenen Erinnerungsbüchern ist erstaunlich, zumal die "Erinnerungen" knapp drei Jahre nach der Haftentlassung erschienen.
Wir haben es eigentlich mit drei Speers zu tun: Dem hochintelligenten, Hitler ergebenen Architekten und Kriegsorganisator, der weiß, daß der Krieg verloren ist, im Konkurrenzkampf um die Gunst des Führers trotzdem zäh seine Position verteidigt, in der letzten Kriegsphase aber die sinnlosen Vernichtungsbefehle sabotiert. Zweitens mit dem Ernüchterten der frühen Nachkriegszeit, der sagt, was er weiß und als Angeklagter seinen Kopf aus der Schlinge zieht. Und schließlich mit dem Produkt einer Selbststilisierung, nicht weniger effizient konzipiert als Speers berühmter "Lichtdom" der 150 gegen Himmel gerichteten Flakscheinwerfer für den Reichsparteitag von 1937. Die späte zweite Karriere führte den nun Sechzigjährigen, der Hitlers Bunker in letzter Stunde verlassen konnte, als Medienstar zu ungeahnten Höhen empor.
Albert Speer - alles, was ich weiss. Herausgegeben von Ulrich Schlie. Herbig Verlag, München 1999. 320 Seiten, Fotos, geb., öS 321,-/e 23,32