Der Einzelne und seine GESEllSCHAFT

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Am 28. Juli erhält Karl ove Knausgård in salzburg den Österreichischen staatspreis für Europäische literatur. Eine Vorab-Würdigung von laudator anton Thuswaldner.

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Am 28. Juli erhält Karl ove Knausgård in salzburg den Österreichischen staatspreis für Europäische literatur. Eine Vorab-Würdigung von laudator anton Thuswaldner.

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Was macht ein Menschenleben aus? Und wie stößt man ins Innerste einer Existenz vor? Das beschäftigt den Norweger Karl Ove Knausgård in seinem sechsteiligen Romanzyklus, der von seiner eigenen Biografie ausgehend die ihm nahe stehenden Menschen einer kritischen Beobachtung unterzieht. Am Beispiel eines überschaubaren Grüppchens zeichnet er das Porträt einer Gesellschaft.

Wenn der Erzähler "Ich" sagt, greift er tatsächlich auf von Knausgård Erlebtes zurück. Aber dieses Ich steht nie allein. Es ist umgeben von Menschen, die ihn prägen und herausfordern, ihn zu einem sozialen Wesen gestalten. Dieses Ich gibt es nur, weil es so viele Gegenüber hat, auf die es reagieren muss. Automatisch gerät ein Kollektiv ins Blickfeld, und dieses ist repräsentativ für die Gesellschaft von Norwegen und Schweden, die Länder, in denen Knausgård gelebt hat, für den Zeitraum ab den siebziger Jahren, die seine Niederschrift betreffen.

Mühselige Kleinarbeit

Die Gesellschaft bildet den Hintergrund, vor dem sich das Drama der Individuen abspielt. Das Ich sucht sich seinen Platz in der Welt, ohne Kampf geht das nicht ab. Buch um Buch ist nachzulesen, wie der Erzähler sich gegenüber anderen zu behaupten hat, wie er den Alltag in mühseliger Kleinarbeit bewältigt, wie er die Interessen des Ichs teilweise hintanstellt, um sie dann doch wieder in den Vordergrund schieben zu lassen. Ein pausenloses Muster aus Anziehung und Abstoßung, aus Nähe und Distanz ist zu beobachten. Ein Mensch, der ihm gerade noch nahe gestanden ist, gilt im nächsten Augenblick als lästiger Störfaktor. Wir sehen ein Ich unter Einfluss, das sich immer wieder dieser Einflüsse zu entledigen versucht. Wie schrecklich brennen sich einzelne Szenen ein, die er mit seinem Vater erlebt, und wie nahe kommt ihm dieser so schwierige und eigenbrötlerische Verweigerer von Zuneigung doch bisweilen in einigen Phasen der Kindheit.

Im Schreiben sucht Knausgård jede Distanz zu überwinden, er möchte an die Personen seiner Umgebung so nahe heran wie möglich. Das leistet er dank eines ausgeprägten Genauigkeitssinns, der den gewöhnlichen Alltag in all seiner Banalität und Durchschnittlichkeit fasst. Wir erkennen all diese Versatzstücke bürgerlicher Normalität wieder, das liest sich auf den ersten Blick wenig aufregend. Was aber hält uns an der Lektüre? Warum bleiben wir dran, wenn wir das allzu Vertraute sehen? Das gelingt Knausgård, weil er dieses Allerweltsmilieu als brüchig erkennen lässt. Inmitten der Wohlanständigkeit nistet sich der Verfall ein, der Niedergang, das Unheil. Menschen, nach außen honorige, angesehene Persönlichkeiten, rauben ihren Nächsten die Luft zum Atmen. Die Grausamkeit ereignet sich im Verborgenen. Wenn keiner hinsieht, weil er es so genau nicht wissen will, gibt es diese Grausamkeit nicht. Die Gesellschaft erweist sich als erschütterungsresistent, weil sie ihre Ruhe nicht gefährden will. Literatur vom Schlage Knausgårds sägt am Konsens des Gleichmuts. Das kann unerwartete Folgen haben.

Im sechsten Band der Hexalogie, "Kämpfen", kommt Knausgård auf den ersten Band "Sterben" zu sprechen. Er schickte das Manuskript kurz vor der Veröffentlichung an all jene, über die er geschrieben hatte, um ihr Einverständnis einzuholen. Er rechnete nicht mit dem erbitterten Widerstand eines Onkels, der die Familie verunglimpft sah. Der drohte nämlich, sollte das Buch erscheinen, gerichtlich dagegen vorzugehen und die Presse einzuschalten. Er wies ihm zahlreiche Fehler nach und unterstellte ihm Geschäftemacherei auf Kosten von anderen. Knausgårds Vater sei keineswegs ein Trinker gewesen, der sich die letzten Jahre im Haus seiner Mutter zurückgezogen habe, um beide in einem Morast aus Unrat verkommen zu lassen.

Für den Autor, selbst in Zweifel über die Zuverlässigkeit seines Gedächtnisses gestürzt, stellt sich die Frage nach Wahrheit. Der Onkel liest den Text als unmittelbare Wiedergabe der Familiengeschichte und fühlt sich um seinen Frieden betrogen. Ist ein Roman ein Dokument authentischen Lebens einer ganz bestimmten Familie? Für Literatur, ein Kunstwerk, das sich ästhetischer Methoden bedient, um einer Sache zum Durchbruch zu verhelfen, wäre die Schlüsselromanperspektive ein dürftiges Argument für das Gelingen. Ein Roman lässt Atmosphäre und Milieu erstehen, schafft plastische Persönlichkeiten, an deren Schicksal man teilhaben darf, weist aber über die Enge des Beschriebenen hinaus.

Kann ein Roman lügen? Diese Frage stellt sich dem Erzähler, als er über die Folgen seines Schreibens nachdenkt. Er weiß, dass, welche Vorstellungen auch immer andere über seinen Vater hegen mögen, es sich um seine Version handelt. Die kann ihm keiner nehmen: "Ich hatte über Vater geschrieben. Ich hatte über meine Angst vor ihm geschrieben, über meine Abhängigkeit von ihm und über die gewaltige Trauer, die ich nach seinem Tod empfand. Es war ein Roman über ihn und mich. Es war ein Roman über einen Vater und einen Sohn."

Das Leben, ein Kampf, das Schreiben nicht minder. "Min Kamp" heißt das Romanprojekt im norwegischen Original, ein Titel, der im Deutschen unmöglich zu gebrauchen ist. Knausgårds Kampf ist ein privater, Hitlers ein politischer. Beide gehen von persönlichen Erfahrungen aus. Der eine fälscht die Biografie, um sich ein ideales Leben zu ersinnen, das eine Zwangsläufigkeit vorgibt und den Verfasser zu einem Auserwählten macht. Der andere steckt voller Zweifel, beschreibt ein Leben voller Umbrüche und Verwerfungen, zeigt kein Interesse, sich selbst als positiven Charakter erscheinen zu lassen. "Min Kamp" bildet einen Gegenentwurf zu "Mein Kampf", ist eine Attacke auf ein Bewusstsein, das die Welt von Feinden besiedelt sieht, die ausgemerzt werden müssen.

Täglich antibürgerlicher

Hält man die beiden Bände "Sterben" und "Kämpfen" gegeneinander, ist dem Erzähler das Erschrecken anzumerken, das ihn befällt, wenn er sich mit Hitler beschäftigt. "Ich war Anarchist, Atheist und wurde täglich antibürgerlicher", schreibt er über seine Jugendjahre. Und: "Ich wollte in einer Band spielen, frei sein und so leben, wie ich wollte, nicht, wie ich musste." Dem jugendlichen Hitler wird nachgesagt, dass er, wie sein Biograf Ian Kershaw schreibt, seine Zeit mit "Zeichnen, Malen, Lesen oder ,Gedichte' schreiben" verbrachte. Das unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem frühen Leben Knausgårds, auf den der Vorwurf, "faul, träge, schmarotzerhaft, voller Tagträume und Fantasien" zu sein, auch zugetroffen hätte. Deshalb wirft er Kershaw kleinbürgerliche Haltung vor. Nicht der jugendliche, verträumte Hitler, der sich eine Zukunft als Künstler vorstellte, wie so viele seiner Generationskollegen auch, ist das Problem, sondern der Propagandist des Hasses, der er zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht war.

Mit dem Beschreiben allein kommt Knausgård nicht weit. Er schiebt essayistische Blöcke und Reflexionspassagen in sein Werk ein, die theoretisch abhandeln, wozu der Abbildrealismus nicht imstande ist. Denn um an das Innerste von Personen zu rühren, muss die Oberfläche der Alltagswirklichkeit durchstoßen werden. Dafür ist für Knausgård eine an bedeutenden abendländischen Denkern geschulte Sprache notwendig. Er macht einen metaphysischen Kern im Menschlichen ausfindig, der mehr will als sich mit dem Hier und Jetzt abzufinden. In der Beschäftigung mit Kunst findet Knausgård Zugang zu einem reichen Kosmos des Inneren. Bei Claude Lorrain sieht er sich an Wolken fest, "aber die Landschaften, über denen sie vorüberzogen, waren archaisch oder religiös. In ihnen war die Vorstellung dem Anblick übergeordnet, der Gedanke dem Auge."

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