Chronobiologie und Schulbeginn: Der frühe Schüler fängt keinen Wurm
Teenager sind meist Morgenmuffel, viele plädieren deshalb für einen späteren Schulbeginn. Doch die Umsetzung ist schwierig.
Teenager sind meist Morgenmuffel, viele plädieren deshalb für einen späteren Schulbeginn. Doch die Umsetzung ist schwierig.
Was würde passieren, wenn künftig der Unterricht erst um 9 Uhr oder gar 10 Uhr beginnen würde? Eine Leistungssteigerung seitens der Schüler - darin sind sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einig. Die Noten der Mädchen und Buben würden sich schlagartig verbessern, sie könnten sich eher konzentrieren und ihre Aufmerksamkeitsspanne wäre größer. Auch würden die Jugendlichen in weniger Unfälle im Straßenverkehr verwickelt - das fand Kyla Wahlstrom von der University of Minnesota heraus. Ihr Team und sie begleiteten 9000 Schüler von acht Schulen in drei US-Bundesstaaten über einen Zeitraum von vier Jahren. Nachdem in den einschlägigen Bildungseinrichtungen der Unterrichtsbeginn nach hinten verlegt worden war, hatten sich die Autounfälle mit Teenagern um bis zu 70 Prozent verringert.
Hormonell veränderter Rhythmus
Warum sind Heranwachsende am Morgen weniger fit? Liegt es daran, dass sie bis spät in die Nacht auf ihren Smartphones herumtippen, zu viele Partys feiern oder steckt mehr dahinter?"Tatsächlich hat es physiologische Gründe", erklären die Forscherinnen Katharina Widenhorn-Müller und Ulrike Weiland vom Ulmer Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL).
In der Chronobiologie spricht man vom entwicklungsbedingten "Delayed Sleep Phase Syndrome". Während Kinder in der Regel frühe Chronotypen sind, verschieben sich die Schlafpräferenzen mit der beginnenden Pubertät hin zu einem verzögerten Schlafbeginn. Das heißt: Teenager werden schlichtweg später müde. Warum sich die innere Uhr verschiebt, wenn ein Kind zum Jugendlichen wird, darüber tappt die Forschung noch weitgehend im Dunkeln. "Möglicherweise verändern hormonelle Umstellungen den Schlaf-Wachrhythmus", vermuten die ZNL-Expertinnen in einem ihrer Forschungsberichte.
Vollständig ermittelt ist dagegen, wie viel Schlaf ein Pubertierender benötigt: Es sind 8,5 bis 9,25 Stunden pro Nacht. In der Realität wird dieses Ziel nur von jedem vierten erreicht. Im ZNL geht man davon aus, dass mehr als 60 Prozent aller Schüler an einem chronischem Schlafdefizit leiden und sich das wiederum auf ihren schulischen (Miss-)Erfolg auswirkt.
Die Gleichung scheint ganz einfach zu sein: Je früher ein Heranwachsender aufstehen muss, desto höher ist das Level seiner chronischen Übermüdung und desto schlechter sind seine Leistungen. Heißt das umgekehrt, dass jeder schlappe Teenager zum Primus mutiert, wenn morgens die Schulglocke um sechzig Minuten später läutet?
Später Start - später Schluss
"Um so viel kreatives Potenzial wie möglich abzuschöpfen, müsste der Unterricht tatsächlich später losgehen", meint Kristin Teßmar-Raible von der Universität Wien. Dennoch steht die Leiterin der Forschungsplattform "Rhythms of Life" diesem Vorhaben kritisch gegenüber: "Die ganze Debatte rund um den Unterrichtsstart wird oft nur auf einen Aspekt reduziert und könnte auch nach hinten losgehen." Erstens, weil dann jüngere Kinder benachteiligt würden. "Bis zur Pubertät lernt man ja in der Früh typischerweise besser", so Teßmar-Raible. Zweitens würde man in Kauf nehmen, dass die Schülerinnen und Schüler noch weniger Tageslicht abbekämen, als es bisher der Fall ist. Ein späterer Schulstart hieße auch ein späterer Schulschluss. "Es gibt Studien, die stark darauf hindeuten, dass zu wenig Zeit im Freien zu enormer Kurzsichtigkeit führt. Außerdem haben Aufenthalte unter natürlichem Licht ausgleichende Wirkungen auf die menschliche Psyche", so Teßmar-Raible. Drittens dürfe man nicht unterschätzen, welchen Einfluss eine Veränderung des Schulrhythmus auf das gesamte gesellschaftliche Leben hätte. Ein späterer Schulbeginn könnte in Konflikt geraten mit dem restlichen Ablauf im Familienleben und den Arbeitszeiten der Eltern."
Aber wie kann man auf die Bedürfnisse der Jugend eingehen und trotzdem nicht gleich an den Grundfesten unseres Zusammenlebens rütteln? Führende Chronobiologen schlagen dazu einen Kompromiss vor: Lehrerinnen könnten wenigstens die Prüfungen nicht früh am Morgen schreiben lassen, sondern in einem Zeitfenster zwischen 10 und 11 Uhr. Wer weiß, vielleicht verbessern sich die Noten dadurch über Nacht. Und wenn nicht, haben die Pädagogen zumindest ein gutes Taktgefühl bewiesen.
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