Der Gaußsche Unterschied

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Karl Markus Gauß macht den Alltag eines Jahres zum Stichwortbringer für Streitbares und Philosophisches.

Karl Markus Gauß ist nicht verwandt mit dem Mathematiker, keine Gleichung, keine Kurve heißt nach ihm. Doch gibt es so etwas wie den Gaußschen Unterschied: Eine unmeßbare, aber augenscheinliche Abweichung zum Mainstream. Sie kennzeichnet Menschen, die gegen den Strom schwimmen und vor Strudeln und Verdächtigungen nicht zurückschrecken. Abgezeichnet hat er sich in vielen Kommentaren und Büchern des in Salzburg lebenden Essayisten, unübersehbar wurde er mit dem Journal der Zeit zwischen August 2000 und Juli 2001 in monatlichen Kapiteln.

Das Tagebuch ist eine Lebensform. Gauß kennt viele Beispiele aus der Geschichte und hat sich ebenfalls für diese Form entschieden. So nimmt er Bezug auf Sándor Márai, Franz Kafka, Leopold von Andrian (einen Zeitgenossen Hofmannsthals), auf Friedrich Hebbel, für den das Tagebuch ein Notenbuch seines Herzens war und nicht zuletzt auf Franz Grillparzer, der seine Aufzeichnungen mit der Frage beginnt: "Bin ich ein guter Mensch oder nicht?"

Tagebücher sind für wache Geister ein Stütze, für Verirrte ein Leuchtturm, für Verunsicherte eine Höhle, eine Zufluchtsort. Publiziert werden sie meist lange nach der Entstehung. Gauß weiß sich zu unterscheiden. In der Politik ist political correctness nicht immer der Maßstab seiner Wertungen, bestimmt er seine Freunde nicht nach deren Feinden, behält er sich das Recht vor, zu denken. Das ärgert jene, die wohlmeinend und gutgläubig mitmarschieren und vergessen, nach dem Ziel zu fragen.

Der Gaußsche Unterschied betrifft jedoch nicht nur diese selten gewordene Widerständigkeit. Früher hätte es genügt, vom Widerstand zu schreiben, "aber es gibt Worte, die büßen ihre Widerstandskraft ein. Über ein paar Generationen mögen sie kerzengerade gestanden sein; dann knicken sie ein, ausgesogen, ihrer Lebenskräfte beraubt". Es betrifft auch die Schnelligkeit, mit der ein Journal nicht einmal ein Jahr, nachdem die letzte Zeile geschrieben wurde, bereits als Buch vorliegt.

Gauß hat Buch geführt und den Alltag als Ausgangspunkt für seine Überlegungen genommen. Der Alltag als Stichwortgeber für kluge und brillante, kurze und längere Abschnitte über die richtige Form des Lebens, die Politik, die schwarzblaue Wende und ihre Kritiker, die Kulturpolitik und nicht zuletzt über Literatur. Der Chronist macht mit seinen Notizen nicht nur Lust auf Kritik und somit auch auf Politik, er weckt überdies auch das Interesse für eine andere Literatur, für einen Paul Parin, für eine Klara Blum, die ins Exil nach Moskau und später nach China ging, für Leo Federmair, für Rudolf Geist und Norbert C. Kaser, um nur einige zu nennen. Das Journal legt eine Spur, der zu folgen sich empfiehlt, wenn sich die Lektüre nicht an den Bestsellerlisten ausrichtet.

Der Ausgangspunkt dieser Notizen ist für den Leser noch nicht Zeitgeschichte geworden und gerade deswegen so schwer einzuordnen. Wann war es, dass ein toter Demonstrant dazu führte, dass die Globalisierung wieder einmal Thema in den Medien wurde? Ist die Kasernierung und Besetzung von Salzburg im Zuge des Weltwirtschaftsgipfels tatsächlich erst einige Monate her?

Der Autor erlaubt sich auch, Menschen punktgenau zu treffen, und er tut es wohlberedt. Dass ein Regisseur wie Luc Bondy darüber in Wut geraten sein und mit einem Buch oder Sektglas nach dem Autor geschmissen haben soll, ist eine nette Geschichte. Doch hier geht es nicht um eine Seitenblicke-Revue für gehobene Geister. Gauß ist ein alter Linker, der über eine gehörige Portion Selbstironie verfügt, die nicht in Selbsthass umschlägt, und er schreibt, was viele sich nicht zu denken trauen und schon gar nicht aussprechen wollen, sobald Applaus von der falschen Seite droht. "Es war meine Generation, die dem Alltag die Zügel abgenommen hat. Jetzt ärgern wir uns, dass das wilde Tier, aus dem Geschirr gespannt, sein Revier so ungeschlacht in Besitz nimmt. Zum wiederholten Male bricht die Zivilisation zusammen, nur bin es peinlicherweise diesmal ich, der das beklagt."

Der Applaus ist ihm gewiß nicht gleichgültig, aber er ist nicht bereit, jeden Regiewahnsinn zu verteidigen, nur weil das Regietheater von den Rückwärtsgewandten als Teufel hinter allen Bühnenvorhängen vermutet wird. Über Castorfs Salzburger Inszenierung von Tennessee Williams "Endstation Sehnsucht": "Die provinzlerische Angst des Provinzlers, den Anschluß an die große Welt zu verpassen, nötigt die um Weltoffenheit bemühten Bürger unfehlbar dazu, Dinge zu bewundern, von denen man gehört hat, dass sie irgendwo in der großen Welt großen Erfolg hatten."

Den Kulturimperialismus Amerikas nennt er beim Namen, Pop und Neoliberalismus sieht er als kulturell-industriellen Komplex, "dessen Wirtschaftskraft und ideologische Bedeutung die des militärisch-industriellen Komplexes übertrifft. Damit sind dem Pop die letzten Reserven, in denen noch Kräfte des Widerstands schlummerten, abhanden gekommen. Der Pop ist als Medium des Protests entstanden, und er endete als Propaganda des Neoliberalismus." Das besondere Verhältnis des Österreichers zur Sprache, die gesprochen wird, um sich gleichzeitig in ihr zu verbergen, sieht Gauß als Folge der Gegenreformation und des Zwanges, die Obrigkeit zu täuschen, den Aktionismus als Kunstform als Ende einer rebellischen Ära: "Mit den Aktionisten wurde die Revolte sprachlos, anti-intellektuell und auf überspannte Weise katholisch."

Auch über die Weigerung Erzbischof Eders, aufmüpfigen Jugendlichen die Firmung zu erteilen, hat Gauß seine Meinung und wundert sich viel mehr darüber, dass "atheistische Spießer" der Kirche unentwegt Ratschläge erteilen, wie sie sich mit den Leuten besser stellen solle. ("Am unangenehmsten sind mir über die Jahre daher die vielen ungläubigen Leute geworden, die sich fürchterlich über die Kirche echauffieren und dabei wie religiöse Eiferer aufführen.")

Vom Alltag schlägt Gauß Brücken über schwindelerregende Abgründe, er stellt die unglaublichsten Verbindungen her. Wer kommt schon auf die Idee, Bayern München als Ausgangspunkt für eine andere, fundamentale Kritik unserer Gesellschaft und deren Funktionieren zu nehmen. Eine von vielen klugen Passagen: "Eine Kapitalgesellschaft namens Bayern München hat die deutsche Fußballmeisterschaft gewonnen - und halb Deutschland trauert". Die Art, wie Bayern Fußball spiele, sei der nackte, unverstellte Kapitalismus, "der es nicht mehr für nötig befindet, schöne Phrasen von Freiheit oder Menschenwürde zu finden, sondern schlicht verlangt, dass die Menschen funktionieren, auf dass der Profit noch größer werde." Wenn Bayern spielt, wünschen sich viele einen Sieg der gegnerischen Mannschaft. "Dieser langweilige, berechenbare, nur auf den Endzweck des Sieges orientierte Fußball weckt die Sehnsucht nach einer Welt, in der die Menschen wieder ihre Begabungen entfalten dürfen und diese nicht darauf reduzieren müssen, das Ihre zum vorberechneten Erfolg beizutragen."

Karl Markus Gauß pflegt die Attitüde des einsamen Kämpfers, der im Recht ist und die Wirklichkeit gegen den Strich bürstet, dafür spricht auch der Titel: "Mit mir, ohne mich". Trotz etlicher selbstgeflochtener Lorbeerkränze ist dieses Buch wohltuend in einem täglichen politischen Diskurs, der in der Regel zwischen bloßem Ja und Nein pendelt und auf ein Aber, Wenn und Oder gänzlich verzichtet.

Der wieder entdeckte ungarische Dichter Sándor Márai steht am Beginn der Aufzeichnungen wie am Ende. "Geziemender wäre es zu verstummen. Aber Schweigen ist langweilig." Der Chronist kann darauf nur sagen: "So ist es" und auf weitere Beispiele des Gaußschen Unterschiedes und weitere Auseinandersetzungen hoffen.

Mit mir, ohne mich Ein Journal von Karl-Markus Gauß Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002 356 Seiten, geb., e 24,40

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