Alpbach - © Foto: picturedesk.com / ÖNB-Bildarchiv / United States Information Service

Der Geist von Alpbach

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Hans Albert, 82, deutscher Philosoph und Sozialwissenschafter, dem Denken Karl Poppers verpflichtet, seit Mitte der fünfziger Jahre regelmäßiger Gast im Tiroler Bergdorf, blickt zurück.

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Hans Albert, 82, deutscher Philosoph und Sozialwissenschafter, dem Denken Karl Poppers verpflichtet, seit Mitte der fünfziger Jahre regelmäßiger Gast im Tiroler Bergdorf, blickt zurück.

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Für mein Leben und meine geistige Entwicklung hat Alpbach, das kleine Tiroler Bergdorf, in dem seit mehr als 50 Jahren Intellektuelle zusammenkommen, um über wichtige Probleme aus allen Lebensbereichen zu diskutieren, eine ganz besondere Bedeutung. Ich kam zum ersten Mal als junger Assistent im Sommer 1955, dem Jahr des österreichischen Staatsvertrags, nach Alpbach, eingeladen durch den österreichischen Philosophen Ernst Topitsch, der vor kurzem in Graz verstorben ist. Die internationalen Hochschulwochen, an denen ich teilnahm, dauerten damals noch 22 Tage. Die etwa 300 Teilnehmer der Tagung, vor allem Studenten und Professoren, hatten daher die Möglichkeit zu ausgedehnten Gesprächen und Diskussionen, die manchmal bis tief in die Nacht andauerten.

Kein Fließwasser

Von Luxus konnte keine Rede sein. Man wohnte meist in Bauernhäusern, die kein fließendes Wasser hatten, die Seminare fanden in den Bauernstuben der Gasthäuser und in anderen dazu geeigneten Räumen statt. In den Plenarsitzungen in einem Saal des Posthotels saß man zusammengedrängt auf Holzbänken, die immer wieder umfielen. Aber die Primitivität der äußeren Umstände wurde ausgeglichen durch eine Intensität des geistigen Austauschs, wie ich sie später nirgends mehr erlebt habe.

Die zentrale Figur der Tagung war Otto Molden, der, wie wir hörten, führend am Widerstand gegen das Hitler-Regime beteiligt war und schon im August 1945, also unmittelbar nach Kriegsende, zusammen mit dem Innsbrucker Philosophen Simon Moser die ersten Alpbacher Wochen ins Leben gerufen hatte, mit dem Ziel, zur Einigung Europas beizutragen. Die Vision eines vereinten Europas war offenbar die Leitidee seines Wirkens. Die Bildung einer Gemeinschaft europäischer Intellektueller, ausgehend von Alpbach, schien ihm die Vorbedingung für die geistige Einigung Europas zu sein, die der wirtschaftlichen und politischen Einigung vorhergehen sollte.

Otto Molden war ein Mann der Tat und gleichzeitig ein Intellektueller und ein Visionär, wie er von einem französischen Politiker einmal genannt wurde. Manchmal hatte man den Eindruck, dass er auch als General eine gute Figur gemacht hätte. Aber der äußere Eindruck täuschte. Die Einigung Europas war für ihn in erster Linie ein Problem des Geistes, das heißt einer vom geistigen Erbe Europas inspirierten Politik.

Die Alpbacher Institution, deren Gründung und Entwicklung vor allem seiner Tatkraft zu verdanken war, war in ihrer Art einmalig, eine einzigartige Veranstaltung, und sie ist es bis heute geblieben. Sie war, wie Molden in seinem Alpbach-Buch "Der andere Zauberberg" festgestellt hat, das Paradebeispiel der Entfaltung einer offenen Gesellschaft im Sinne Karl Poppers, ein "freier Marktplatz der Ideen" und ein Experimentierfeld für das Popper'sche Modell.

Otto Molden hatte Popper schon früh nach Alpbach geholt, nämlich im Jahre 1948, und zwar auf Anraten Friedrich August von Hayeks, hat ihn dann immer wieder nach Alpbach eingeladen und wurde ein Freund Poppers. Alpbach war, wie er mit Recht gesagt hat, der Ausgangspunkt des starken Einflusses, der seit dem Ende der vierziger Jahre von Popper auf den deutschsprachigen Raum ausging.

In einem kürzlich erschienenen Buch über Popper ist zu lesen, dass seine Anhänger im Laufe der Jahre das intellektuelle Klima der Alpbacher Veranstaltungen derart prägten, dass man vom "kritischen Rationalismus", den Popper vertrat, als der "Alpbacher Dorfreligion" sprach. Offenbar hatte der Journalist, dem diese Nachricht zu verdanken war, einen Seminarleiter mit dem Dorfpfarrer verwechselt. Natürlich waren die anderen philosophischen Richtungen ebenfalls in Alpbach vertreten. Es gab keineswegs ein Monopol des kritischen Rationalismus, wie es die Rede von der Dorfreligion suggerierte.

Ich selbst habe als Teilnehmer der Alpbacher Wochen dort im Jahre 1958 Karl Popper kennen gelernt. Diese Begegnung war von großer Bedeutung für mich. Sie hat mir seine Freundschaft und einen für meine geistige Entwicklung ungeheuer wichtigen Gedankenaustausch eingebracht. Nur durch Alpbach habe ich Denker aller Geistesrichtungen kennen gelernt, mit deren Werk ich mich auseinandersetzen konnte. Auf keinem anderen Kongress habe ich eine solche Vielfalt von Positionen erlebt. Die ganze europäische Geisteswelt war hier vertreten. Es gab keine Zensur. Liberale und Marxisten, Positivisten, Hermeneutiker und Metaphysiker, Katholiken, Protestanten und Atheisten kamen nach Alpbach und diskutierten miteinander. Nicht nur aus dem freien Westen, auch aus Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien kamen Intellektuelle zum Gedankenaustausch mit anderen.

Vertriebene Intelligenz

Besonders wichtig war die Tatsache, dass Vertreter der Philosophie und der Wissenschaften, die in den 30er Jahren wegen der politischen Entwicklung aus Österreich und anderen Ländern emigriert waren, nach Alpbach kamen, zum Beispiel außer dem schon erwähnten Karl Popper die Philosophen Herbert Feigl, Rudolf Carnap, Philipp Frank, Walter Kaufmann, Karl Löwith, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Ernst Bloch, der Jurist und Rechtsphilosoph Hans Kelsen, der Soziologe Theodor Geiger, die Ökonomen Friedrich August von Hayek, Fritz Machlup und Gottfried Haberler. Sie trafen dort jüngere Kollegen, die sich für ihre Arbeiten aufgeschlossen zeigten. Und sie konnten darüber hinaus mit Intellektuellen aus dem Ostblock diskutieren, die diese Gelegenheit gerne wahrnahmen.

Was mich angeht, so habe ich seit 1955 in jedem Jahr am "Europäischen Forum Alpbach" teilgenommen, habe dort 1956 meine spätere Frau kennen gelernt, und bin dann mit ihr und später auch mit meinen drei Söhnen dort gewesen, die wie ich selbst vom geistigen Klima Alpbachs profitiert haben.

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