Der gute Mensch von Jena

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Er diente Johann Wolfgang von Goethe und endete im Armenhaus: Wie sich Carl Wilhelm Stadelmann ein letztes Mal im Glanz des Dichterfürsten sonnen durfte.

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Er diente Johann Wolfgang von Goethe und endete im Armenhaus: Wie sich Carl Wilhelm Stadelmann ein letztes Mal im Glanz des Dichterfürsten sonnen durfte.

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Die Enthüllung des Frankfurter Goethe-Denkmals 1844 ist ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches Ereignis. Zwölf Jahre ist es her, daß man den Dichter in seiner Wahlheimat Weimar zu Grabe getragen hat, jetzt will ihm endlich auch die Vaterstadt in gebührender Weise huldigen: Eine hübsche Stange Geld hat sich die Bürgerschaft der Freien Reichsstadt den Schwanthaler-Koloß in der Gallus-Anlage kosten lassen. Einer der Männer aus dem Festkomitee, die das Spektakel vorbereiten und die Liste der einzuladenden Ehrengäste erstellen, macht den Vorschlag, doch auch nach Jena zu blicken: Müßte es nicht gerade dort noch mancherlei Goethe-Reliquien geben, die man sich als Leihgabe für die Zeremonie erbitten kann?

Hier hat der Meister, wenn man's zusammenzählt, ziemlich genau fünf Jahre seines Lebens zugebracht, hat in Wahrnehmung seiner weimarischen Ministerpflichten an den örtlichen Rekrutenaushebungen teilgenommen, den Bau der Chaussee durchs Mühltal sowie die Flußregulierung der Saale überwacht, den Botanischen Garten und das sogenannte Acchouchierhaus, ein Entbindungsheim mit Hebammenlehranstalt, gegründet, die dem Hof unterstehenden Bibliotheken, Sammlungen und Kabinette geordnet und den naturwissenschaftlichen Fächern Mineralogie, Botanik und Chemie zur Etablierung als eigene Universitätsdisziplinen verholfen. Im Hörsaal des Anatomieturms am Teichgraben ist dem Fünfunddreißigjährigen die aufsehenerregende Entdeckung des menschlichen Zwischenkieferknochens geglückt, im Bachsteinschen Haus am Marktplatz ist er nach einer abendlichen Sitzung der Naturforschenden Gesellschaft zum erstenmal dem Kollegen Schiller begegnet, in Jena hat er den Roman "Wilhelm Meisters Lehrjahre" und das Epos "Hermann und Dorothea" vollendet, die Ratschläge des "Urfreundes" Carl Ludwig von Knebel eingeholt und im Hause des Buchhändlers Frommann dessen Pflegekind Minchen Herzlieb schöne Augen gemacht. Müßte es da nicht ein leichtes sein, zur Ausschmückung des Frankfurter Festakts ein einschlägiges Exponat ausfindig zu machen und für ein paar Tage von der Saale an den Main zu transferieren?

Die Antwort aus Jena könnte origineller nicht ausfallen: Man schickt den Frankfurtern kein Möbelstück, kein Schreibwerkzeug, kein Dokument. Sondern eine lebendige Leihgabe, eine leibhaftige, wohl die rührendste, die sich denken läßt: den alten Diener. Carl Wilhelm Stadelmann. Der Zweiundsechzigjährige, in letzter Zeit arg heruntergekommen, verbringt seinen Lebensabend im Armenhaus der Stadt. Wird man ihn wohl dazu bewegen können, noch ein letztes Mal den Frack, die Weste und die Lackschuhe, die sein einstiger Dienstherr ihm zum Abschied überlassen hat, anzulegen und die Reise in Goethes Geburtsheimat anzutreten? Denn Stadelmann ist seit Jahren ein Fürsorgefall. Holz spalten, Wasser schleppen, Sand waschen, Steine klopfen - das sind die Arbeiten, die ihm im Jenaer Armenhaus aufgetragen sind, und nicht einmal die sechs Groschen pro Tag, die ihm für seine Dienste zustehen, werden ihm ausgehändigt: Augenblicks würden sie über den Schanktisch des Branntweiners wandern ...

32 ist er, als Goethe auf den aufgeweckten Burschen aufmerksam wird: Seine Intelligenz, sein Witz und die Sicherheit seines Auftretens machen auf den 33 Jahre Älteren starken Eindruck, der Dichter engagiert ihn vom Fleck weg, am 1. Juli 1814 tritt er seinen Dienst "beym Herrn Cammer-Rath v. Göthe" an. "Haar: braun, Augen: blau, Nase und Mund: proportioniert, Statur: mittel, besondere Kennzeichen: keine": So wird später der betreffende Eintrag im Weimarer Gesindebuch lauten.

Noch im selben Monat - genau: am 25. Juli 1814 - treten Dienstherr und Domestik die erste gemeinsame Reise an: Rhein, Main und Neckar sind ihr Ziel; auf den Arm des Zweiunddreißigjährigen gestützt, wandert Goethe durch das nächtliche Frankfurt, hält vor dem Vaterhaus am Hirschgraben inne, lauscht gerührt dem Schlag der alten Standuhr, die schon in seinen Kindertagen die Stunden gezählt hat.

Unter den dienstbaren Geistern, die Goethe in seinem fast 83jährigen Leben "verbraucht", wird Carl Wilhelm Stadelmann derjenige sein, der ihm von allen am nächsten steht. Auch als er sich bereits von ihm getrennt hat, wird er dem "braven guten Menschen" verbunden bleiben, indem er dessen Nachfolger Ferdinand Schreiber nicht etwa "Ferdinand", sondern weiterhin, als hätte es nie einen Wechsel gegeben, "Carl" ruft.

Über den genauen Ablauf der Kündigung - den unmittelbaren Anlaß bilden jedenfalls Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit der schlampigen Führung der Reisekassa - schweigen die Dokumente, doch wird eine "lautstarke Auseinandersetzung" vermutet: Goethe ist enttäuscht, Stadelmann ist verletzt. Der inzwischen Zweiundvierzigjährige verläßt Weimar und kehrt in seine Heimatstadt Jena zurück, wo er zunächst wieder in seinem angestammten Beruf als Buchdrucker Fuß zu fassen versucht. Schließlich aber landet er im Armenhaus. Als ihm 1834 auch noch seine Frau wegstirbt, verliert Stadelmann den letzten Halt, liefert sich vollends der Geißel Alkohol aus, kann von seinem Dienstgeber nicht einmal mehr für die einfachsten Arbeiten in Haus und Garten herangezogen werden. Im Armenasyl in der Jenaergasse quält er sich noch zehn Jahre dahin - als Holzhacker und Gartenknecht, dessen einziges Vergnügen es bleibt, sich ab und an einen gewaltigen Rausch anzutrinken - vorausgesetzt, es gelingt ihm, sich der Aufsicht durch den strengen Inspektor zu entziehen. Aus dem "nicht ganz gewöhnlichen Menschen", dem eine Zeitzeugin aus den letzten Lebensjahren noch kurz zuvor "feine Manieren und eine gebildete Sprache attestiert hat, ist ein Wrack geworden. Treffe man ihn jedoch in nüchternem Zustand an, so "brauchte man sich nur fünf Minuten mit ihm zu unterhalten, um zu wissen, daß man einen Mann vor sich habe, der viel erlebt und erfahren."

Nur ein einziges Mal noch, schon gegen Ende seines Lebens, fällt ein letzter Strahl des einstigen Glanzes auf den Verelendeten, wenigstens für ein paar Stunden darf sich Carl Wilhelm Stadelmann noch einmal im Ruhm seines früheren Dienstherrn sonnen: Es ist die bereits erwähnte Einweihung des Frankfurter Goethe-Denkmals, 1844. Die Geburtsstadt des Dichterfürsten hält für den Festakt an der Gallus-Anlage nach Ehrengästen Ausschau, die Authentizität ausstrahlen, Goethe auf seinem Lebensweg persönlich begleitet haben.

Wie wär's mit Friedrich Wilhelm Riemer? Der alte Goethe-Sekretär ist noch am Leben, in Weimar erreicht ihn die Einladung. Doch der Siebzigjährige muß abwinken: Bei der schweren Gicht, an der er laboriert, ist an die strapaziöse Reise nach Frankfurt nicht zu denken. Eines der Mitglieder des Denkmalkomitees schlägt daraufhin als Ersatz den alten Diener vor. Auf allerlei Umwegen ist durchgesickert, daß auch Stadelmann noch unter den Lebenden weilt. Müßte es für den in bedrückender Armut Dahinvegetierenden nicht eine besondere Auszeichnung sein, noch einmal seinen Fuß auf den Boden jener Stadt zu setzen, die er in jungen Jahren mit seinem Herrn durchstreift hat? Jawohl, so ist es: Stadelmann, die "Extrapost" aus Frankfurt in Händen, holt aus seinem Wäschekasten im Jenaer Arbeitshaus das Sonntagsgewand hervor, das ihm Goethe seinerzeit zum Abschied vermacht hat, probiert die jahrelang unbenützt gebliebenen Sachen, packt sein Köfferchen und besteigt, das Gratisbillet für die weite Reise in der Rocktasche, die Kutsche nach Frankfurt. In Weimar macht er Zwischenstation und stattet dem verhinderten Sekretarius Riemer einen Besuch ab, über den dieser in seinem Tagebuch wohlgelaunt festhält: "Er erzählt von alter Zeit und seiner jetzigen Arbeit aller Art im Arbeitshause zu Jena, alles mit gutem Humor und Schwatzhaftigkeit."

Der Empfang in Frankfurt kommt ihm wie ein Traum vor: Ist es möglich, daß sie ihn, den einstigen Buchdrucker, Lakai und Labordiener, wahrhaftig mit "Euer Gnaden" anreden? Und daß sie ihm bei der Feier der Denkmalsenthüllung einen Ehrenplatz in der ersten Reihe zuweisen? Jeder der Umstehenden will ihm die Hand drücken, so mancher spricht ihm frischen Lebensmut zu, ergötzt sich an den Goethe-Anekdoten, die er zum besten gibt, steckt ihm die eine oder andere milde Gabe zu. "Mit vor Freude glühendem Antlitze", wird man anderntags in den Gazetten lesen, nimmt "die letzte lebendige Reliquie des Dichter-Heros" all die Huldigungen der Frankfurter Honoratioren entgegen. Sogar eine kleine Altersrente, so wird ihm zugeraunt, wollen sie ihm aussetzen: Baron Rothschild verbürgt sich persönlich für die prompte, regelmäßige Überweisung.

Als am 26. Dezember 1844 tatsächlich das versiegelte Kuvert mit der ersten Zahlung in Jena eintrifft, ist niemand zur Stelle, den Geldbetrag zu übernehmen und den Kassenzettel der Freien Stadt Frankfurt zu quittieren: Der Adressat hat in der Nacht davor seinem Leben ein Ende gemacht.

Der Sturz aus dem Frankfurter Festtagstrubel zurück zu Strohsack und Suppennapf des Jenaer Arbeits- und Armenhauses ist zu tief gewesen: Stadelmann, aufs neue den Schikanen des Asylinspektors ausgesetzt, öffnet eine der Bouteillen kostbaren Rheinweins, die ihm die Frankfurter Gastgeber ins Reisegepäck gesteckt haben, trinkt sich ein letztes Mal Mut an, wirft die leere Flasche aus dem Fenster seiner Wohnkammer, klettert die Treppe zum Dachboden hinauf, legt einen Strick um einen der Balken und erhängt sich.

Dem eilends herbeigerufenen Arzt bleibt bloß noch eines zu tun: den Totenschein auszustellen. Nur der Justitiar des Großherzogtums Sachsen-Weimar wird dem Verstorbenen im Namen des Hofes eine letzte Auszeichnung zukommen lassen: Es wird verfügt, Carl Wilhelm Stadelmanns Leichnam sei nicht - wie sonst bei Selbstmördern üblich - der Anatomie der Universität zu Versuchszwecken freizugeben, sondern in einem ordentlichen kirchlichen Begräbnis beizusetzen.

Stark gekürzter Vorabdruck aus dem Buch "Im Dämmerlicht" von Dietmar Grieser, das im Sommer 1999 im NP-Verlag (St.Pölten/Wien) erscheinen wird.

Dietmar Grieser zum 65. Geburtstag Er ist ja ein lieber Kerl, dieser Dietmar Grieser. Charmant, intelligent, freundlich, leise, sympathisch. Und doch hat er sich eines unverzeihlichen Verbrechens schuldig gemacht: Die "Literaturschauplätze" waren seine Idee. Wieso seine? Wieso nicht meine? Das denken sie alle, wir alle, die schreibenden Konkurrenten, die ihm eine der besten Sachbuchideen der letzten Jahrzehnte neiden. Ja, neiden. Dabei war sie so naheliegend. Man suche Schauplätze berühmter Bücher auf, vom River Kwai bis zur Strudlhofstiege, und schreibe, wie es dort aussieht. Und damals ausgesehen hat. Er hat allerdings einen mildernden Umstand: Das Buch ist gut. Er ist ein ausgezeichneter Feuilletonist und sorgfältiger Stilist, und auch in seinen 25 weiteren Büchern, von den Dichterwitwen bis zu den berühmten Betten, spürt man seine Liebe zur Literatur, zum Geist. Verzeihen wir ihm also, wir alle, die diese Königsidee nicht hatten. Und nicht seinen Fleiß. Und nicht seine Spürnase. Und schenken wir dem begeisterten Wahlwiener Dietmar Grieser diese unsere Verzeihung zu seinem 65. Geburtstag, den er am 9. März begeht.

Ad multos libros! Hellmut Butterweck

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