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Im Interesse der Pharmaindustrie: Der Handel mit der Krankheit

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Für die moderne Medizin ist es lukrativ, den Markt der Gesunden zu erobern. Werden dabei Störungen erfunden oder unzulässig erweitert?

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Für die moderne Medizin ist es lukrativ, den Markt der Gesunden zu erobern. Werden dabei Störungen erfunden oder unzulässig erweitert?

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Hippokrates, der Ur-Vater einer mit Vernunft und Maß agierenden Medizin, teilte seine Patienten in drei Gruppen ein: erstens Patienten, die ohne Behandlung von alleine gesund werden, zweitens die Gruppe, die unbedingt eine medizinische Intervention benötigt, und schließlich jene Patienten, die auf keine ärztliche Zuwendung reagieren. Damit war klar, wo die Grenzen der Behandlung liegen. Wer von alleine gesund wird, braucht keine Medizin, und dort, wo nichts hilft, ist sie ebenfalls unnötig. Das ist heute anders.

Die moderne Medizin hat längst entdeckt, dass es lukrativ ist, den Markt der Gesunden zu erobern und normale Alterungsprozesse zu Krankheiten zu erklären, zum Leben gehörende Stimmungsschwankungen zu Störungen umzudeuten und durch Medikamente zu glätten -oder gar die geistige Leistung des modernen Arbeitstiers Mensch durch Chemie zu dopen. Unter dem Begriff "Disease Mongering" wird seit den 1990er-Jahren heftig debattiert, inwiefern Krankheiten von Pharmafirmen, aber auch von anderen Akteuren des Gesundheitswesens aus wirtschaftlichen Gründen erfunden oder unzulässig erweitert werden: Schlagende Beispiele dafür sind etwa das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADHS) bei Kindern und Erwachsenen, sexuelle Funktionsstörungen bei Mann und Frau oder die Wechseljahre des Mannes.

Explosion fragwürdiger Diagnosen

Naturgemäß ist die Pharmaindustrie daran interessiert, einen möglichst großen Markt für ihre Produkte zu schaffen. Deswegen werden die Beschwerden, die zu ihren Produkten passen, durch griffige Slogans, Marketing-und PR-Agenturen ins Volk getragen, verbreitet -und damit oft zu handfesten Krankheiten. Zur epidemischen Verbreitung von Störungen tragen aber auch die Bürger bei. Schließlich gibt es von jeher eine Empfänglichkeit gegenüber der Idee, dass ein Leiden ein medizinisches Problem ist, das eine medizinische Behandlung und Lösung braucht.

Im Bereich der psychischen Erkrankungen gab es in den letzten Jahren eine wahre Explosion an fragwürdigen Diagnosen. Durch die Etablierung des neuen amerikanischen Diagnosesystems DSM-V (2013), das eine Vielzahl an neuen Störungen auflistet, droht die Normalität zu verschwinden, behauptet Allen Frances, eine Koryphäe der amerikanischen Psychiatrie. Dass es bei psychischen Störungen schon immer so war, dass jede Epoche ihre Krankheit hatte, zeigt ein Blick in die Geschichte.

Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es zwei Mode-Diagnosen: die Hysterie bei Frauen und die Neurasthenie bei Männern. In einem viktorianischen Haushalt war es üblich, dass nahezu in allen Wohnräumen Fläschchen mit Riechsalz bereitstanden, für den Fall, dass eine Dame von einem damals verbreiteten Unwohlsein, der Ohnmacht, niedergestreckt werden sollte. Nicht besser war die Situation der Männer, die häufig unter den Belastungen und der Reizüberflutung litten, die das moderne Leben mit sich brachte. Die Nervosität lag gewissermaßen in der Luft.

Von der Neurasthenie zum Burn-out

Die Neurasthenie war eine Nervenschwäche, geprägt durch Müdigkeit, Lethargie, Empfindlichkeit gegenüber dem Wetter, Lärm und Licht, der Anwesenheit anderer Menschen, bis zu einer allgemeinen Überreiztheit und totalen Erschöpfung. Von ihrem Entdecker, dem New Yorker Therapeuten George Beard, wurde sie als "amerikanische Neurose" bezeichnet, weil sie mit der Lebensweise in den USA zu tun hatte, mit einer rasch wachsenden Nation, die eine rasante wirtschaftliche Entwicklung durchmachte. Eine Lebensweise, die sich durch erhöhtes Tempo, gesteigertes Arbeitspensum und die Verdrängung von Gefühlen auszeichnete. Die Neurasthenie war die Krankheit, die das moderne Leben forderte, wenn man mit dem Tempo der Zeit Schritt halten wollte. Mit dem Import amerikanischer Lebensverhältnisse war diese Erschöpfung um 1900 auch in Europa in aller Munde. Sigmund Freud meinte, dass er so viele Neurasthenien sehe, dass er die nächsten "zwei bis drei Jahre" seiner Arbeit "auf Patienten dieses Typs beschränken könnte" und Hugo von Hofmannsthal ätzte: "Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten".

Hundert Jahre nach der Neurasthenie geht ein neues Gespenst um -das Burnout. Dieses Syndrom ist in den letzten zehn Jahren zur attraktiven Diagnose geworden. In fast jeder populären Talkshow haben sich prominente Musiker, Sportler und Manager geoutet und von ihrem persönlichen Erschöpfungszusammenbruch erzählt. Neurasthenie und Burn-out weisen viele Parallelen auf. Neben fast identischen Symptomen gelten beide Störungen als Beschleunigungspathologien. Im einen Fall ist die Beschleunigung des Lebens und die nötige Steigerung der Nervenleistung am Beginn der Moderne mitverantwortlich, im anderen die Erschöpfungsreaktion auf den jüngsten Beschleunigungsschub durch Internet, Handy & Co. In beiden Fällen ist Ruhe und Reizreduktion die Behandlung der Wahl. Beide Diagnosen sind kaum stigmatisierend -und ein lukratives Geschäft für die Behandler. Schon die Verbreitung der Neurasthenie ging einher mit dem Entstehen von psychiatrischen Privatpraxen und -kliniken, in denen sich finanzkräftige Neurastheniker fanden. Die Neurasthenie verschwand jedoch, als es zu einem Hype kam und niemand mehr davon hören konnte. Ähnlich wird es wohl dem Burn-out ergehen.

Wenn eine Erscheinung zur Modeerscheinung wird, kann das zur Mode gewordene Krankheitszeichen im Aufmerksamkeitswettbewerb der Symptome irgendwann nicht mehr reüssieren. So wie die zehntausendste Frau mit ihrem hundertsten Ohnmachtsanfall im viktorianischen Zeitalter niemanden mehr beunruhigte -und den Medien höchstens ein Gähnen entlockte -, so werden Symptome, wenn sie allzu häufig auftreten, bald nicht mehr ernst genommen.

Der Medizinhistoriker Edward Shorter beschreibt einen Zusammenhang zwischen dem historischen "Wandel der Krankheitskonzepte" und dem "Wandel der Symptomatik" bei psychischen Krankheiten. Die Medizin, die Kultur und der Zeitgeist vermitteln die Vorstellung "legitimer Symptome": Sie entscheiden mit, welche Symptome ernst genommen werden und welchen kaum Beachtung zuteil wird. Seelisch leidende Menschen sind darauf angewiesen, dass sie mit ihrem Leiden zum Krankheitsdiskurs der Zeit passen und von diesem anerkannt werden. Shorter spricht von einer "kulturell codierten Symptomgestaltung". Sie entsteht aus einer Art von Kollektivbewusstsein, in welche Richtung Patienten ihr psychisches Leiden zu modellieren haben. Während die Symptome körperlicher Krankheiten kaum einer kulturellen Gestaltung unterliegen - ein Leberschaden verursacht in der Antike, im Mittelalter und heute Gelbsucht -, ist das bei psychischen Symptomen anders.

Der Wandel der Symptome

Ein Patient im Mittelalter hätte wahrscheinlich gar keine Chance gehabt, ernst genommen zu werden, wenn er sein psychisches Unwohlsein anders als durch hysterische Besessenheit ausgedrückt hätte. Unmöglich, dass er in einer Zeit knapper Nahrungsmittel sein Leiden in Form einer Magersucht mitgeteilt hätte, die es ja erst seit 1800 gibt. Auch in Ohnmacht zu fallen wäre heute keine adäquate Reaktion einer machtlosen und leidenden Frau.

Jede Epoche hat eine Vorstellung davon, was als echte Krankheit gilt. Und kein Kranker hat Interesse, bei seiner "Symptomwahl" illegitime Krankheitszeichen zu erwischen. Der Medizindiskurs, der Krankheiten lanciert, die Medien, die Werbe-und PR-Agenturen von Pharmafirmen, die diesen Diskurs aus kommerziellen Gründen potenzieren, beschreiben Krankheiten nicht nur. Sie verführen Leidende, ihr Leiden symptomgerecht zu modellieren und tragen so zur Erfindung und Verbreitung von Krankheiten bei. Von diesem Spiel aber haben alle etwas -die Behandlungsindustrie, die ihre Produkte und Dienstleistungen absetzt, ebenso wie jene, die ihr Leiden als medizinisch zu behebendes Problem sehen möchten. Und so vielleicht sogar einen unbewussten Krankheitsgewinn haben.

Der Autor ist Philosoph, Psychotherapeut und Dozent an der Sigmund Freud Privat Univ. Wien

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