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Neuere Erkenntnisse über Friedrich Heers Überwintern in der NS-Zeit mögen nahelegen, dass der Kulturphilosoph an seiner Biografie herumgedoktert hat. Dennoch: Friedrich Heer bleibt der alte.

Polarisiert hat Friedrich Heer, der Kultur- und Geschichtsphilosoph in der FURCHE-Redaktion zwischen 1946 und 1961, immer. Aber im Urteil seiner vielen Freunde lebt der 1983 an Blutkrebs Gestorbene bis heute als einer weiter, der nach 1945 Tore aufstieß zu „Feinden“, politisch und religiös Andersgläubigen, der christliches Unrecht an Juden, Sozialdemokraten und Wissenschaftern anprangerte, der früh das Ringen um eine österreichische Identität mit einem neuen Aufgang Europas verband und eigentlich kein „Linkskatholik“, sondern aufgeklärter Konservativer in einem „sich selbstkritisch erneuernden österreichischen Katholizismus“ sein wollte, wie Anton Pelinka in einem Vortrag bei einer wissenschaftlichen Gedenktagung an der Universität Wien im Frühjahr 2006 konstatierte.

Diese Veranstaltung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft ist im Herbst 2008 in einem 313-Seiten-Band bei Böhlau unter dem Titel „Die geistige Welt des Friedrich Heer“ dokumentiert worden. Ein einziges Elaborat kam zu den gehaltenen Vorträgen noch dazu und die Herausgeber Richard Faber und Sigurd Paul Scheichl warnen unter Hinweis auf den Beitrag des Historikers und Bibliothekars Adolf Gaisbauer schon im Vorwort: „Heer-Verehrer müssen sich auf böse Überraschungen gefasst machen“; denn: „Der Mythos des antifaschistischen Widerstandskämpfers Heer ist tot.“ Aber es dauert halt einige Zeit, bis ein wissenschaftliches Todesurteil eine breitere Öffentlichkeit erreicht.

Bloß ein zusammengelogenes Leben?

Heft 2/2009 von Quart, der Zeitschrift des Forums Kunst/Wissenschaft/Medien (beim Katholischen Akademikerverband angesiedelt), hat die Wahrnehmungsschwelle herabgesetzt. Hier bekennt der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell: „Das beifällige Nicken, wenn die Rede auf Heer kommt, ist mir gründlich vergangen.“ Nach diesem von Gaisbauer „akribisch recherchierten Einblick in Heers zusammenfiktionalisiertes (um nicht zu sagen: zusammengelogenes) Leben“ und der wissenschaftlichen Kritik des Kärntner Historikers Helmut Rumpler, der seinem Zunftkollegen Originalität abspricht, hat Hell alle Lust auf Heer verloren.

Adolf Gaisbauer macht die Lektüre seines Aufdeckerwerkes nicht ganz leicht. 20 Seiten lang erregt er sich in pathetischer Büßergesinnung (weil er selbst 1990 eine „hagiografische“ Heer-Biografie geschrieben hat) über sein damaliges „Verbrechen“, das unangefochten blieb. Dann erst folgen Hinweise auf das, was es denn zu widerrufen gelte: Dass Heer im März 1938 von Nazi-Polizisten geschlagen worden sei, bis Dezember 1939 sechsmal in Gestapohaft gekommen und dann in einem Strafbataillon gelandet sei, die ihm aufgetragene „Wehrbetreuung“ zur Gündung einer antinazistischen Widerstandsgruppe an der Uni benutzt habe und eine Narbe auf seiner Stirn von der Eisenstange eines Gestapo-Büttels stamme, seien „generell und grundsätzlich keine Tatsachenmitteilungen“ (S. 261). Ohne geringste Hemmung habe Heer „Beliebiges, Erfundenes, Assoziiertes, Deformiertes, Verfälschtes, Phantasiertes, Angelesenes“ als autobiografisch angeboten (S. 262), denn „er besaß kein Realitäts-/Wahrheitsgewissen“ (S. 264). Aus privaten Aufzeichnungen gehe hervor, dass er zumindest zeitweise mit großdeutschem Gedankengut kokettiert und auf den Sieg der Wehrmacht gesetzt habe. Noch 1943 habe er sich um einen Archivarposten beworben.

Umfangreiche Recherchen

Auch die beiden Herausgeber schreiben, dass man sich „nicht allen psychologischen und wissenschaftstheoretischen Folgerungen“ anschließen müsse. Aber muss man die Kritik überhaupt ernst nehmen? Dafür sprechen natürlich die eingehenden Recherchen Gaisbauers, das Durcharbeiten von Dokumenten aller Art, Briefen, Fotos, Tagebuchnotizen, Befragungen. Einzelne Gestapohaftzeiten bestreitet schriftlich auch seine damalige Verlobte, die NarbenStory auch seine Ehefrau. Kein Gestapo-Akt „Friedrich Heer“ wurde bisher gefunden, kein Grund für eine nachweisliche Bedrohung in der NS-Zeit.

Eine „Illusion biographique“

Warum aber sollte Heer seine Vita neu erfunden haben? Wort- und begriffsreich beantwortet Gaisbauer diese Frage: Weil er mit seinem Leben sein Werk stützen wollte. Von „Traumgesprächen eines am Weltschmerz Erkrankten“ (S. 241) spricht Helmut Rumpler (S. 241). Auch Cornelius Hell mutmaßt: „Vielleicht hätte er seine eigenen späteren Ideen gerne mit seinem ganzen Leben beglaubigt und sich dafür jenes Leben zurechtgeschrieben, das er gerne gelebt hätte.“

Norbert Leser, der Heer unverändert schätzt und von ihm geschätzt wurde („Denker der Koexistenz“ nannten sie einander), erinnert daran, dass schon Goethe in seiner Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“ das Dilemma der Selbstbeschreiber aufzeigte und der französische Philosoph Philippe Bourdieu von einer „Illusion biographique“ sprach, weil oft später gewonnene Einsichten in die Vergangenheit zurückprojiziert würden. Mit seinem Ideenreichtum, so Leser, habe Heer „eine ganze Fakultät einstecken“, jedes Fakultätsmitglied ihn aber in der Detailfülle seiner Beispiele flüchtiger Fehler und Ungenauigkeiten überführen können. Gaisbauer habe nicht böswillig gehandelt, sondern übertrieben, und Hell eine „Übertreibung der Übertreibung“ begangen.

„Kernsanierung“ von Heers großen Anliegen

Mit diesen und anderen Fragen müssen nun alle klarkommen, die sich ihren Heer-Gott nicht einfach zerstören lassen möchten. Wenn nun etwa der Vorwurf erhoben wird, alles, was wir bisher von Heer wissen, stamme von ihm selbst, fragt man sich: Warum haben die Historiker nicht früher autonom recherchiert? Schließlich spricht Gaisbauer selbst von „Arbeitshypothesen“, die „zu einer zivilisierten Diskussion einladen“ (S. 253). Dem Alttestamentler Jürgen Ebach ist wohl zuzustimmen, der dazu rät, im Interesse einer „Kernsanierung“ der großen Anliegen Friedrich Heers eine Korrektur nachweisbarer Fehler und Irrtümer zu akzeptieren.

Wieder einmal bewerten beeindruckte Zeitgenossen Friedrich Heers (zu denen auch ich mich zähle und mich dessen nie geschämt habe) einen Menschen anders als Spätgeborene. Die Zeithistorikerin Erika Weinzierl bekannte in ihrem Nachruf 1983, sie habe bei seinem ersten Vortrag an der Uni Wien gespürt: Hier spreche „ein Ausnahmensch, der eine Botschaft zu verkünden hat.“ Der Soziologe Reinhold Knoll erinnerte in der jüdischen Illustrierten Neuen Welt (August/September 2008) an „Gottes erste Liebe“ und zitierte aus dem Tagebuch seines Vaters August Maria Knoll, der zusammen mit Heer und dem Psychologen Wilfried Daim das damalige „linkskatholische Dreigestirn“ bildete, allerlei Details – aber kein Wort über angeblichen Antijudaismus, den manche jetzt auch aus diesem Standardwerk herauslesen. Heinrich Böll nannte Heer bei der Gedenk-Matinee 1983 einen „Freund und Verbündeten“, Kurt Skalnik hieß ihn einen „Mann des Friedens und der coincidentia oppositorum“ (FURCHE, 4. April 1991).

Wenn Fritz Heer wirklich kein aktiver Widerstandskämpfer war: Nullifiziert sein Ansuchen um einen Archivposten das Viele, das er zur Überwindung nazistischen Ungeistes beitrug? Oder relativiert es nur den Anspruch heutiger Zeitgeschichtsmoralisten, mit richtigen Zielsetzungen auch ihre persönliche Unantastbarkeit zu beweisen? Oder mit persönlicher Integrität die Richtigkeit ihrer Thesen?

Günther Nenning war ein Prophet, als er in profil 14/1991 schrieb: „Friedrich Heer wirkt im Untergrund.“

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