Der Held Oblomow probt den Widerstandsdfsdf

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Die letzten Tage der Sowjetunion in einer bitterbösen Satire über eine unfreiwillige Metamorphose.

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Die letzten Tage der Sowjetunion in einer bitterbösen Satire über eine unfreiwillige Metamorphose.

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Juri Galperins Held Leschakow gleicht äußerlich dem berühmten Helden der russischen Literatur Oblomow, der bekanntlich über 600 Seiten und sein ganzes Erwachsenenleben lang auf dem Sofa liegend über das Leben reflektiert, Pläne schmiedet und sie wieder verwirft, bis er schließlich, gefangen in seinen vielen Wenn und Aber und von der schweren russischen Seele niedergedrückt, stirbt. Leschakow, der unauffällige, brave Ingenieur, dem schon in der Schule eine große Zukunft vorausgesagt wurde, auf die er jahrelang vergeblich wartet, droht angesichts seines durchorganisierten, ausweglosen Lebens ebenfalls in Lethargie zu verfallen: "Ein grüner Teppich wuchs über dem stillen Wasser im Sumpf seines belanglosen Lebens."

Doch das Schicksal hat anderes mit ihm vor: Irritiert durch die Ablehnung des Urlaubsreiseantrags nach Polen, findet er in seiner Wohnung Spuren einer Hausdurchsuchung, was ihn endgültig aus der Bahn des braven Werktätigen wirft. Die äußerlichen Ungereimtheiten und die ständige Furcht vor Sanktionen lassen ihn innerlich - anders als Oblomow - derart erstarken, daß er sich einbildet, dazu berufen zu sein, in einer "großen Aktion" die russische Bevölkerung zum Widerstand gegen den Überwachungsstaat aufzurufen.

Er, der sich mit Vorliebe in seinen eigenen Beinen verhedderte, das Unterhemd verkehrt herum anzog, im Büro niemandem auffiel und jeden kritischen Gedanken fürchtete, wird zum frechen Egoisten, der zu spät zur Arbeit kommt, respektlos mit Vorgesetzten scherzt, ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau pflegt und sich mit dubiosen Freunden trifft. Diese beiden Freunde - ein abgetakelter Schauspielerstar, der ausgerechnet vor dem Auftritt vor westlichen Presseleuten seine Frau bei einem Seitesprung ertappt und daraufhin kein Wort mehr herausbringt, was ihm Partei-Ächtung beschert, und ein Nomenklatura-Funktionär, der durch die Lektüre von Marx den Glauben an die Partei verliert - verstärken die Dynamik der Grenzüberschreitung in einer materiell und geistig engen Gesellschaft. "Unsere Variante ist ohne Varianten," sind sie überzeugt. "Es gibt keinen Ausweg. Mit einem Wort, die russische Variante." Ganz besonders gut gelingt es dem Autor, sprachlich das Gefangensein im System auszudrücken: Die Knappheit der Aussagen, aus Angst, ein falsches Wort zu verlieren, die Flucht in Sprichwörter, allgemeine Formulierungen und Anspielungen, in denen die Metamorphosen des Helden satirisch verpackt sind. Der letzte Marxist, der immer das "Kapital" bei sich trägt, erhängt sich, der Schauspieler wird von der Partei begnadigt und darf wieder kurze Sätze auf der Bühne sprechen, und auch Leschakow kommt zu völlig neuen Erkenntnissen, weil ihm die Bibel in einer ledergebundenen Sonderausgabe auf den Kopf fällt und eine Gehirnerschütterung beschert. Nämlich: "Die Wahrheit ist kein Zaun, den man nur in einer Farbe streichen kann." Sein Pech: die politischen Verhältnisse sind mit seiner Erkenntnis noch nicht kompatibel.

Daß schließlich der starke Arm des Staates doch noch die Leningrader Bevölkerung vor der Aufklärung bewahrt, ist nicht dessen Verdienst. Hat doch die Geliebte, die Leschakow als letzte heroische Tat in seine Pläne einweiht, die Wohnung mit dem Ehemann noch nicht bezahlt ...

Juri Galperin liebt seinen Helden, den er in sein Heldentum purzeln läßt, er liebt sein Land, und er schreibt seine Geschichte mit tiefgründigem, beißendem Humor und glasklarem Blick. Ab 1976 durfte er wohl genau deshalb nicht mehr in seiner Heimat publizieren. Der vorliegende Roman entstand im Schweizer Exil und erschien 1987 in New York. 1995 wurde er auch in einem St. Petersburger Verlag veröffentlicht - was für den Autor wohl eine große Genugtuung bedeuten muß.

LESCHAKOW Von Jurij Galperin Aus dem Russischen von Therese Madeleine Rollier Amman Verlag, Zürich 1997 277 Seiten, geb., öS 291,

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