Der Kampf um das verlorene Gesicht

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Bei der Transplantation ganzer Gesichter werden immer mehr Fortschritte gemacht. Dennoch treten postoperativ immer noch schwere medizinische wie psychische Schwierigkeiten auf.

Bei einem Unfall mit einer Starkstromleitung im November 2008 verbrannte das Gesicht von Dallas Wiens vollständig. Nase, Augen, Mund, Lippen sowie jegliche andere markante Gesichtsmerkmale waren ausradiert. Nur ein Teil des Kinns blieb erkennbar. Der 25-jährige Amerikaner war total entstellt und sozial isoliert. Nicht einmal ein Taxi hielt freiwillig für ihn an. Das soll nun Vergangenheit sein. Der junge Familienvater bekam Mitte März ein neues Gesicht. Einem amerikanischen Ärzteteam um Mediziner Bohdan Pomahac gelang es in einer 15-stündigen Operation, das ganze Gesicht eines Toten zu transplantieren, inklusive Nasenbein, Gesichtsmuskeln, Knorpelgewebe, Lippen, Blutgefäße und Nerven. Nach erfolgreichen Gesichtstransplantationen in Europa wurde damit erstmals einem Patienten in den USA ein komplettes Gesicht transplantiert. Die Verpflanzung von Gesichtern gilt als eine der schwierigsten Operationen überhaupt. Das Hauptrisiko besteht darin, dass der Patient das Gewebe des toten Spenders abstößt.

Nach Angaben der Ärzte kann Dallas bereits wieder durch die Nase atmen. Er werde in Zukunft seine Gesichtsmuskeln wieder bewegen können und einen Teil seiner Mimik zurückgewinnen. "Leider wissen wir heutzutage noch nicht, wie man Augen transplantieren kann. Seine Sehkraft können wir also nicht wiederherstellen“, betont der leitende Arzt Bohdan Pomahac. Sehende Betroffene hingegen können nach einer Gesichtsoperation beim Blick in den Spiegel Probleme mit ihrem neuen "Ich“ bekommen.

Achtung fremdes Gesicht

Tanja hatte nach einer Gesichtsoperation Schwierigkeiten mit ihrem neuen Aussehen. Sie litt seit ihrer Geburt an einer Wachstumshemmung im Oberkiefer. Ihr Gesicht war flach, der Unterkiefer stand hervor, den Mund zu schließen fiel ihr schwer. Kurz vor ihrem 30. Geburtstag ließ sie sich operieren. Doch anstelle von überschwänglicher Freude über die gelungene Operation und die neu gewonnene Gesichtssymmetrie, kam Tanja in eine Identitätskrise. "Ich komme mit diesem Gesicht nicht zurecht. Das bin nicht ich. Gebt mir mein altes Aussehen zurück“, bittet sie den Chirurgen.

Wie Tanja geht es einer Reihe von Patienten, die sich hinter ihrem rekonstruierten Gesicht fremd fühlen, obwohl das alte durch eine schwere Missbildung oder einen Unfall entstellt war. Durch den Anblick des unbekannten, eigenen Gesichtes im Spiegel kann das Hirn des Patienten unter Schock stehen und erkennt das eigene Ich nicht mehr. "Das neue Gesicht wird vom Gedächtnis als fremd erkannt“, erläutert Hans Landolt, Chefarzt der Neurochirurgie am Kantonsspital Aarau in der Schweiz. Das Gehirn arbeite daran, das Gesicht einzuordnen und gibt eine Meldung: "Achtung fremdes Gesicht“. Das könne Angst erzeugen. "Der Betroffene fühlt sich, als ob er eine Maske tragen würde. Je nach Festigkeit der Persönlichkeit und Reaktionen von Mitmenschen ist sein ganzheitliches Ich gefährdet“, so Landolt. Der Patient muss mit professioneller Hilfe lernen, das neue Gesicht Schritt für Schritt zu akzeptieren und es zu seiner eigenen Identität werden zu lassen.

Interdisziplinäre Diskussion nötig

"Eine Vorhersage, wie sich ein Eingriff auf die eigene Wahrnehmung des Patienten und seine Identität auswirkt, ist schwer zu stellen. Wir haben nichts in der Hand, außer ein wenig Bauchgefühl und unsere Erfahrung“, erklärt Hans-Florian Zeilhofer, Chefarzt der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Universitätsspital Basel. Deshalb rief Zeilhofer vor sechs Jahren ein internationales Symposium ins Leben. Seither treffen sich jährlich während der Art Basel Chirurgen, Mathematiker, Informatiker, Physiker und Künstler. Sie diskutieren über die neuesten Erkenntnisse, die mit Identität, Gesicht und Chirurgie zu tun haben. Die Nähe zur Art Basel ist dabei kein Zufall. "Die komplexe Thematik der Identität verlangt nach einer ganzheitlichen, interdisziplinären Diskussion“, sagt Zeilhofer. Kunst spiele dabei eine wichtige Rolle. Denn Identität und Kunst seien individuell geprägt und bedeuten trotzdem für jeden etwas anderes. "Die Identität nur unter dem medizinischen Aspekt zu betrachten, wäre ein Irrtum, fügt Zeilhofer hinzu.

Für Patienten, die sich einer Gesichtsoperation unterziehen, hat sich seit Mitte der 90er-Jahre einiges verändert. "Damals versuchten wir mit Foto- und später mit Videomontagen die durch eine Operation bewirkten Veränderungen zu simulieren“, erklärt Zeilhofer. Heute verfügen die Mediziner über ein dreidimensionales computergestütztes Simulationssystem. Computertomografie und andere bildgebende Verfahren liefern die Eckdaten des Schädels, um jedes Gesicht und dessen Veränderungen vor dem operativen Eingriff zu berechnen. Die Messwerte werden dann an die individuelle Anatomie des Patienten angepasst. "Nicht nur die Form des Gesichtes kann simuliert werden, sondern auch die Bewegungen, wie zum Beispiel ein Lächeln“, erklärt Zeilhofer. Dreidimensional geplante Operationen sind heute in großen Kliniken Standard. Das Operationsresultat wird kalkulierbarer. Die Reaktion des Patienten bleibt jedoch in einem gewissen Maße unberechenbar.

Der Patient ist kein Kunstwerk

Im November 2005 transplantierte ein französisches Ärzteteam um den Chirurg Bernard Devauchelle erstmals größere Haut- und Muskelflächen. Isabelle Dinoire, deren Gesicht durch Bisse von ihrem Hund schwer entstellt war, erhielt von einer hirntoten Organspenderin ein Dreieck aus Nase, Mund und Kinnpartie. Heute kann sie wieder lächeln. Hat Chirurg Devauchelle damit seiner Patientin einen Teil ihrer Identität zurückgegeben? Devauchelle verneint die Frage nach der Identität: "Identität kann man nicht rekonstruieren. Durch die Gesichtschirurgie erhalten Menschen mit einem entstellten Gesicht eine neue Basis. Die Identität gibt sich der Patient jedoch selbst und entwickelt sie weiter. Identität ist mehr als nur das Gesicht. Es ist der Mensch als Ganzes - seine Haltung, seine Seele.“

Der Chirurg Devauchelle wurde durch die Medien gar zum Erschaffenden, zum Gesichtsmacher hochgejubelt. Ist er ein Künstler, der sich durch eine Skulptur ein Denkmal setzt? Eine Skulptur erhalte ihren Wert durch den Blick des Betrachters, so Devauchelle. "Ein Patient darf hingegen nie zum Objekt werden, sondern muss immer Subjekt bleiben; unabhängig vom Chirurgen, selbstbestimmt und mit seiner eigenen Wahrnehmung“, betont Devauchelle. "Wenn der Patient zum Kunstobjekt wird, hat der Chirurg mehr als nur sein Gesicht verloren.“

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