Der katholische Dionysos

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Ab 20. August zeigen die Salzburger Festspiele "Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann. Zu einer so faszinierenden wie tragischen Komponistenpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts.

Die Zeit, als physikalische Größe der Ereignisse wie auch als erkenntnistheoretisches Phänomen, spielt in seinem Werk und Leben eine äußerst wichtige Rolle. Geboren 1918 im Rheinland, ist Bernd Alois Zimmermann ein Zu-spät-Geborener, um noch von der klassischen Moderne initialisiert zu werden. Der Zweite Weltkrieg, samt traumatisierenden Wehrmachtseinsätzen, verzögert seinen Studienabschluss bis 1947. Für die Moderne der Nachkriegszeit ist er schon zu alt, um noch in den inner cercle der jungen Avantgarde Eingang zu finden. Darüber hinaus hat der gläubige Katholik neben dem Kompositionsstudium auch eine solide Ausbildung als Musikpädagoge sowie ein umfangreiches Œuvre von Hörspiel- und Theatermusiken vorzuweisen, was in den elitären Kreisen der musikalischen Zeitgenossenschaft bis heute als unfein gilt. Erst in den 1960er-Jahren etabliert sich Zimmermann als erfolgreicher Komponist.

"Musica impura“ - unreine Musik

In seinem Frühwerk noch stark expressionistischen Tendenzen verhaftet, findet er inhaltlich und technisch sehr schnell Zugang zu experimentellen Praktiken, insbesondere zum Serialismus (die mathematische Prädetermination musikalischer Parameter), den er aber in sehr persönlicher Weise nachhaltig uminterpretiert. "Ich will nicht Avantgarde sein, ich will etwas Neues schaffen“, sagte er in einem Radiointerview 1957. Der auch theologisch, literarisch und philosophisch vielseitig Gebildete entdeckt durch das Studium der Werke des Augustinus die für ihn bahnbrechende Neuheit. Aufbauend auf der sogenannten "Illuminationstheorie“ ("Confessiones“, IX. Buch), die besagt, dass die Fähigkeit des Menschen über relative Einzelerkenntnisse hinaus übergreifende Wahrheiten zu erfassen einen Existenzbeweis Gottes darstellt, begreift er den qualitativen Sprung von einem objektiven Zeitbegriff, analog zum Raum, zu einer "innerlichen und eigentlichen Zeit“. In seinem 1957 verfassten Aufsatz "Intervall und Zeit“ schreibt er: "Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind, wie wir wissen, lediglich in ihrer Erscheinung als kosmische Zeit an den Vorgang der Sukzession gebunden. In unserer geistigen Wirklichkeit existiert diese Sukzession jedoch nicht, was eine realere Wirklichkeit besitzt als die uns wohlvertraute Uhr, die ja im Grunde nichts anderes anzeigt, als dass es keine Gegenwart im strengeren Sinne gibt. Die Zeit biegt sich zu einer Kugelgestalt zusammen. Aus dieser Vorstellung […] habe ich meine […] pluralistische Kompositionstechnik entwickelt, die der Vielschichtigkeit unserer Wirklichkeit Rechnung trägt.“

Dieser pluralistische Kompositionsstil, in dem neben zeitgenössischen Formen auch traditionelle Ansätze, Jazzelemente sowie Zitate von Pérotin bis John Cage Eingang finden, wurde von der herrschenden Clique der Darmstädter Ferienkurse (Stockhausen, Nono, Boulez) weitgehend abgelehnt. Hans Werner Henze nennt eine ähnliche Haltung in seinen Arbeiten selbstironisch "musica impura“ (unreine Musik), konnte mit der gleichen Ablehnung aber wesentlich besser umgehen. Zimmermanns Musik ist in keiner Weise unrein, sie ist von Präzision, Detailgenauigkeit und dramaturgischer Akribie geprägt.

Dramaturgisch geordnete Klangorgie

Dass seine Arbeiten trotz der seriellen Grundhaltung äußerst spannend und hoch emotional sind, ist eines der großen Geheimnisse seiner Kunst. In seinem Orchesterwerk "Photoptosis“ (Lichteinfall, 1968) verdichtet sich ein anfänglich zartes und statisches Klanggeschehen durch Hinzutreten mehrerer Zeit- und Stilebenen nach und nach zu einer dionysisch anmutenden Klangorgie, die aber immer einer übergeordneten Dramaturgie folgt und so zu keinem Zeitpunkt beliebig wirkt, sondern einen ungeheueren Sog entwickelt, dem man sich nicht entziehen kann. In seinem "Requiem für einen jungen Dichter“ (1969) ergänzt er die liturgische Vorlage der Totenmesse durch Texte von Autoren, die den Freitod gewählt haben und sprengt die Form des Oratoriums durch Einbeziehung von Tonbandcollagen mit Originalzitaten von Hitler, Dubˇcek, Papst Johannes XXIII. und Geräuschkulissen von Kriegshandlungen und Massendemonstrationen. Seine "Sonate“ für Cello Solo (1960) ist eines der berührendsten und anspruchvollsten Werke dieser Gattung.

1958 erhält er den Auftrag zur Komposition einer Oper. Anfang 1960 sind "Die Soldaten“, nach dem gleichnamigen Drama von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), weitgehend fertig, aber der Leidensweg zur Uraufführung ist lang und schmerzlich. Wolfgang Sawallisch und später Günter Wand lehnen das Werk als "unspielbar“ ab. Die Kölner Oper und der Schott-Verlag verhalten sich abwartend. Erst nach einer konzertanten Aufführung einzelner Szenen 1963 wendet sich das Blatt. Michael Gielen erbringt 1965 bei der Kölner Uraufführung den klaren Gegenbeweis zur Unspielbarkeit. Das Werk hat trotz der ungeheuren Anforderungen an alle Ausführenden wie an das Publikum größten Erfolg: eines der engagiertesten, radikalsten, emotionalsten und experimentellsten Stücke der Gattung Musiktheater. Das Experiment ist geglückt, aber der gehässige Widerstand gegen sein Werk hat in der Seele des Komponisten Spuren hinterlassen.

"Es ist genug“

Ab 1968 nimmt er keine Aufträge mehr an, schreibt aber alle noch bestellten und geplanten Werke zu Ende. Sein letztes Werk "Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“, eine "Ekklesiastische Aktion“ für zwei Sprecher, Bariton und Orchester, basierend auf der gleichnamigen Erzählung "Der Großinquisitor“ von Dostojewski, endet mit einem Zitat: Bachs Choralsatz "Es ist genug“, der, im zarten Holzbläsersatz intoniert, nach sechs Takten von einem extrem lauten Paukenschlag quasi zerrissen wird. Kurz nach Fertigstellung dieser Arbeit nimmt Zimmermann sich im August 1970 das Leben.

"Wer Musik versteht, wird anders zuhören“, sagt Ludwig Wittgenstein. Um "Die Soldaten“ als Publikum zu verstehen, sind analytische Hinweise nur bedingt hilfreich. Es bereichert das Hörverhalten kaum, wenn man weiß, dass dem Werk eine Allintervallreihe zugrunde liegt oder dass stellenweise bis zu sieben Zeitebenen gleichzeitig erklingen. Da hilft schon eher der Hinweis, dass vereinzelt selbst Bewegungen und Nebengeräusche der Ausführenden in der Partitur genauestens fixiert sind. Wer sich als Neuling für eine Aufführung wirklich fit machen will, dem seien die drei oben erwähnten Werke "Photoptosis“, "Requiem für einen jungen Dichter“ (unbedingt mit Textheft zu hören!) und "Sonate“ als Trainingsprogramm anempfohlen (alle drei Werke liegen in exemplarischen CD-Einspielungen vor). Es lohnt sich, dem gewaltigen Kosmos der Zimmermann’schen Kunst vorbereitet gegenüberzutreten, um sich vom Sog der Musik und der Handlung mittragen, mitreißen zu lassen.

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