Der kleine GROSSE MANN

19451960198020002020

Henri de Toulouse-Lautrec, vor 150 Jahren geboren, musste sich krankheitsbedingt immer wieder zurückziehen. Mit seiner Plakatkunst aber nahm er den öffentlichen Raum auf einzigartige Weise ein.

19451960198020002020

Henri de Toulouse-Lautrec, vor 150 Jahren geboren, musste sich krankheitsbedingt immer wieder zurückziehen. Mit seiner Plakatkunst aber nahm er den öffentlichen Raum auf einzigartige Weise ein.

Werbung
Werbung
Werbung

"Mein Plakat wurde heute an den Wänden von Paris angeschlagen und ich beginne damit, ein anderes zu machen." Dies schrieb der französische Künstler Henri de Toulouse-Lautrec 1891 stolz in einem Brief an seine Mutter. Er bezog sich damit auf sein erstes Plakat für das Varieté Moulin Rouge. Es zeigt die Cancan tanzende ehemalige Wäscherin "La Goulue" im Hintergrund. Im Vordergrund ist die Silhouette eines bekannten männlichen Tänzers mit Zylinder zu erkennen, der aufgrund seiner Biegsamkeit den Beinamen der "Entknochte" erhielt. Beeindruckend an dieser Grafik sind die flächige, intensive Farbigkeit und ein spannungsvolles Verhältnis aus Schrift und Bildmotiven.

Das farbkräftige Plakat machte den Künstler über Nacht berühmt. Es war der Beginn einer erfolgreichen Serie von 30 Plakaten, die in Auflagen von bis zu 3000 Stück gedruckt und an allen Ecken und Enden von Paris affichiert wurden. Toulouse-Lautrec führte mit seiner dekorativen Plakatkunst die Drucktechnik der Farb-Lithographie, also des Steindrucks, zur Blüte. Mit seinen unverkennbaren, am japanischen Holzschnitt orientierten Plakaten wurde er zum Vorbild für Werbung und Kunst gleichermaßen. Denn er hat die Barriere zwischen Kunst und Kommerz, zwischen High und Low, radikal niedergerissen. Dies wird in der Jubiläumsschau "Der Weg in die Moderne" im Kunstforum Wien anhand herausragender Plakate, Zeichnungen, Bilder und Fotos sichtbar.

Formale und inhaltliche Neuerungen

Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive überzeugen all die formalen und inhaltlichen Neuerungen, die Toulouse-Lautrec aufbrachte. Aus menschlicher Sicht interessiert etwas anderes. Denn der "kleine, große Mann", wie er posthum gerne genannt wurde, hat mit seiner Kunst genau jene Räume erobert, die ihm selbst so unerreichbar erschienen. Zeitlebens musste er sich krankheitsbedingt immer wieder aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Und dennoch nahm Toulouse-Lautrec mit seiner farbintensiven Plakatkunst den öffentlichen Raum auf einzigartige Weise ein. Bewegung war für den an einer Knochenkrankheit leidenden Künstler, der stets mit einem Stock unterwegs war, zeitlebens schwierig. Fing er vielleicht gerade deshalb die Bewegungsfähigkeit des Menschen durch das Darstellen von Tänzerinnen und Zirkusartisten wie kein Zweiter im Bild ein?

Der Pariser Bohemien hat sich selbst nur ein einziges Mal ernsthaft gemalt. Als Sechzehnjähriger. Das "Selbstbildnis vor einer Spiegelkonsole" aus dem Jahr 1880 zeigt einen männlichen Oberkörper in der Bildmitte. Das Gesicht liegt mehrheitlich im Dunklen verborgen. Zu erkennen: Ein skeptischer Blick und große wulstige Lippen. Am meisten irritieren die vor dem Mann aufgetürmten Gegenstände. Sie bilden eine Barriere zwischen Betrachtern und dem Dargestellten.

Darstellung von Menschen

Dass sich Toulouse-Lautrec selbst so wenig ins Zentrum seiner Kunst stellte, und wenn, dann karikaturhaft, erstaunt. Denn seine Faszination galt nahezu ausschließlich der Darstellung von Menschen. Landschaften, historische oder religiöse Themen interessierten den Zeichner überhaupt nicht. Sein Rückzug aus der eigenen Bildwelt wird aber verständlich angesichts seines Schicksals.

Henri de Toulouse-Lautrec stammt aus einem der ältesten französischen Adelsgeschlechter. Er kam am 24. November vor 150 Jahren als Erstgeborener in Albi, im Südwesten Frankreichs, auf die Welt. Spätestens im Alter von zehn Jahren war klar, dass der kleine Henri nicht nur ein normal schwächliches Kind war. Er litt an einer seltenen Erbkrankheit. Hervorgerufen wahrscheinlich durch die enge Verwandtschaft der Eltern als Cousin und Cousine. Die Folge: Starke Schmerzen, zwei Oberschenkelbrüche, die nicht richtig verheilten, eine unproportionierte Figur und letztendlich eine Körpergröße von lediglich 1,52 m.

Toulouse-Lautrec hatte eine enge Beziehung zu seiner "armen, heiligen Frau Mutter", wie er sie nannte. Adéle de Toulouse-Lautrec hat zeitlebens versucht, die körperlichen wie seelischen Schmerzen ihres Sohnes durch Überbehütung zu kompensieren. Dies gelang ihr genauso wenig wie allen anderen Müttern, die am liebsten jegliches Leid von den Kindern fernhalten würden. Denn der Maler musste seinen eigenen Weg gehen. Einen radikalen, kreativen, letztendlich auch selbstzerstörerischen. Zumindest stellte die Mutter aber immer einen ruhenden Halt für ihn dar. So starb der 36-Jährige auf ihrem Wohnsitz nach exzessivem Alkoholkonsum an einem Schlaganfall und nicht auf dem väterlichen Gut seiner Geburt.

Die Gräfin gehörte vor allem in der Frühzeit zu seinem liebsten Modell. Auffällig dabei: Sie ist stets sitzend und stark verinnerlicht dargestellt; den Blick gesenkt, die Augenlider geschlossen. Diese kontemplative Wiedergabe der Mutter steht in starkem Kontrast zu den wenigen Bildern des Vaters, den der Maler in Bewegung als wilden und ungreifbaren Reiter oder Jäger festgehalten hat. Genau das fasziniert an bildender Kunst. Auch ohne etwas sprachlich festzumachen, erzählen Bilder Geschichten: über gelebte oder nicht gelebte Beziehungen. Über Sehnsüchte und Träume. Durch das, was gezeigt, aber genauso durch das, was nicht gezeigt wird.

Wie bei Vincent van Gogh oder Frida Kahlo hat das tragische Leben des Montmartre-Stars lange den Blick auf dessen innovative Kunst verstellt. Dabei fragt man sich angesichts einer seiner meist reproduzierten Zeichnungen: Wie kann man mit wenigen Strichen und lediglich drei Farben - schwarz, weiß und blau - so viel aussagen? Die Darstellung, dessen Original im Musée Toulouse-Lautrec in Albi beheimatet ist, zeigt eine Frau im Profil. Sie sitzt an einem Caféhaustisch, das Kinn aufgestützt. Der Blick geht ins Leere. Vor ihr stehen eine Flasche und ein Glas. Diese Tusche- und Kreidezeichnung aus dem Jahr 1889 mit dem Titel "Die Trinkerin" wird immer wieder als Symbol der existentiellen Not des verarmten und resignierten Großstadtmenschen zu Ende des 19. Jahrhunderts gedeutet, dem letztendlich kein anderes Los als der Weg in die Sucht bleibt. Toulouse-Lautrecs Zeichnungen begeistern auch aus soziologischer Sicht: Weil sie Einblicke in die soziale Situation von arbeitenden Frauen in der Pariser Nachtwelt der Theater, Varietés und Bordelle geben. Mit scharfem, psychologisch feinsinnigem Auge zeichnet er deren Lebens-und Arbeitsumfeld - aber ohne den voyeuristischen Blick, der vielen Malern der Kunstgeschichte eigen ist. Vielmehr verleiht er den von ihm dargestellten Frauen eine besondere Würde in all der Ungeschminktheit, mit der er sie zeichnet.

Legendenumranktes Verhältnis zu Frauen

Sein reales Verhältnis zu Frauen ist legendenumrankt. Die einzige wirkliche Liebesgeschichte hatte er wahrscheinlich mit Suzanne Valadon, die Toulouse-Lautrec für das Blatt "Die Trinkerin" Modell saß. Die frühere Trapezkünstlerin war eines der beliebtesten Modelle der Pariser Kunstszene. Schließlich avancierte sie als Autodidaktin selbst zur herausragenden Avantgarde-Malerin, die mit ihren Frauendarstellungen und ihrer unkonventionellen Biografie zum Vorbild für viele nachfolgende Künstlerinnen wurde. Toulouse-Lautrec soll derjenige gewesen sein, der ihr Zeichentalent als erster erkannte und sie ermutigte, einen Künstlernamen anzunehmen. Valadon und Toulouse- Lautrec hatten auf ganz unterschiedliche Weise kein leichtes Leben. Beide haben aber in dem kreativen Ausdruck eine Möglichkeit gesehen, dem Rätsel des menschlichen Daseins näherzukommen. In all seiner Vielfalt. Mit all seinen Licht- und Schattenseiten. So meinte Valadon, Malen bedeute für sie, "einen Augenblick des Lebens in seiner ganzen Bewegtheit und Intensität zu erhaschen."

Ausstellungs-Tipp

Henri de Toulouse-Lautrec. Der Weg in die Moderne. Kunstforum Wien, bis 25. Jänner täglich 10-19, Fr bis 21 Uhr www.kunstforumwien.at

Radio-Tipp

Johanna Schwanberg: Zerbrechlicher Meister des Plakativen. "Gedanken für den Tag", Ö1, 24.11.-29.11.2014, 6.56-7.00 Uhr

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung