Der „konkrete Poet“ wird 80

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Opernmord: Wiener Mundartdichter muss wegen seiner Verse Alibi erbringen!“ So formulierte der Express im April 1963 eine aufsehenerregende Schlagzeile. Gemeint war Gerhard Rühm, der wegen seiner erotischen Dialektgedichte in dem vom ihm mit H. C. Artmann und Friedrich Achleitner herausgegebenen Poesie-Band „hosn rosn baa“ von der Wiener Kriminalpolizei des Mordes an einem Mädchen verdächtigt und verhört wurde. Eine Episode, die erahnen lässt, wie radikal und innovativ die Sprachexperimente des Mitbegründers der „Wiener Gruppe“ damals waren – und wie wenig sie im engstirnigen Klima der Wiener Nachkriegsjahre verstanden wurden. „Wir fühlten uns hier abgeschnitten, auf verlorenem Posten. Von wenigen Abdrucken in Zeitungen und Anthologien abgesehen, häuften sich unsere unpublizierten Manuskripte in der Schublade. Wir hatten keine Chance,“ erinnerte sich Rühm rückblickend. Also packte der „konkrete Poet“ 1963 seine Sachen und zog nach Berlin, wo er in den 60er-Jahren gemeinsam mit Günter Brus und Oswald Wiener als künstlerischen Protest gegen die Repressionen in Wien die „Österreichische Exilregierung“ samt deren publizistischem Organ „Die Schastrommel“ gründete. Das Blatt hat sich längst gedreht und Gerhard Rühm gilt heute als Klassiker der österreichischen Nachkriegsavantgarde – ausgezeichnet mit unzähligen Preisen, darunter dem Großen Österreichischen Staatspreis (1991).

Dass Gerhard Rühm, am 12. Februar 1930 in Wien geboren, in der Öffentlichkeit hierzulande nicht so präsent ist wie manche seiner Avantgarde-Kollegen, liegt nicht nur daran, dass er hauptsächlich in Köln lebt. Es hängt auch damit zusammen, dass sich sein Werk schwer einordnen lässt. Schließlich ist Rühm Schriftsteller, Musiker und bildender Künstler zugleich. Genau dieser spartenübergreifende Ansatz, er spricht von „intermedialer Arbeit“, lässt sein Schaffen aber aus Sicht des heutigen Kunstgeschehens besonders gegenwärtig erscheinen. So entwickelte der ehemalige Präsident der Grazer Autorenversammlung (1978–83) zahlreiche neue Genres wie „visuelle Musik“, „auditive Poesie“ und „Bildbeschreibungen“. Vieles, was Gerhard Rühm an der Schnittstelle von Musik, Literatur und bildender Kunst seit den 1950er-Jahren selbstverständlich praktiziert, wurde Jahrzehnte später Mode.

Zunächst studierte Rühm an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst Klavier und Komposition, suchte aber bald die Nähe zur bildenden Kunst, sodass er 1955 erstmals seine visuellen „wort- und lautgestaltungen“ im Rahmen des Künstlerclubs „exil“ ausstellen konnte. Später prägte Gerhard Rühm als Professor für Freies Zeichnen an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg Generationen von Studenten. Seine Werke wurden auf den bedeutendsten Großausstellungen – der Kasseler Documenta (6 und 8) und der Biennale in Venedig (1997) – gezeigt.

Literaturgeschichte schrieb der allseitig Begabte mit der „Wiener Gruppe“, die er gemeinsam mit Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Konrad Bayer und Oswald Wiener 1954 begründete. Elfriede Jelinek betonte anlässlich der Verleihung des Nobelpreises in Interviews, dass ihre Literatur auf den Arbeiten von Gerhard Rühm und seinen Kollegen aufbaue. Zu Recht, denn durch den sprachreflexiven Ansatz und den universalen Textbegriff der „Wiener Gruppe“ entstand in der österreichischen Literatur eine neue Freiheit, an die alle Nachkommenden – jeder auf seine Weise – anknüpfen.

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