Tomas Fellinger ist gehörlos. Statt mit den Ohren inhaliert er die Welt mit seinen Augen, statt mit Lauten spricht er mit Gebärden. Entdeckt hat er seine Muttersprache erst mit 16 Jahren. Heute fühlt er sich als Vorbild - und hat (fast) keine Probleme.
In der "Bunkerei“ im Wiener Augarten spielt sich an diesem Abend Abenteuerliches ab: Koffer auf zwei Beinen laufen durch den schattigen Gastgarten, und ein Charmeur mit Hosenträgern überreicht neu eintreffenden Frauen, auf die er vermeintlich sehnsuchtsvoll wartet, eine rote Rose. "Secret Circus“ heißt das absurd-komische Programm, mit dem Clownfrau Martha Labil die Gäste des Szenelokals verblüffen will.
Über jene Szene, die derweil in einem stillen Eck der "Bunkerei“ über die Bühne geht, wundert sich hingegen kein Mensch. Es sind drei Leute, die abwechselnd mit ihren Mündern, Augen, Armen und Händen sprechen: ein braun gebrannter, gut gelaunter Herr; eine Dolmetscherin; und dazwischen eine Journalistin. Wann immer Tomas Fellinger mit Hörenden zusammen ist, die seine Sprache nicht verstehen, ist eine Gebärdendolmetscherin dabei. Den ganz normalen Alltag bewältigt er freilich ausgezeichnet allein: einkaufen gehen, Behördenwege erledigen, Reisen absolvieren - alles kein Problem. "Ich bin vollkommen selbstständig“, sagt der Mann im lila Hemd und schaut mit wachem Blick durch seine Brille.
"Selber! Selber! Selber!“
Diese Selbstständigkeit und Selbstsicherheit ist es auch, die der 53-jährige Wiener an seinem Arbeitsplatz nahe der "Bunkerei“ weitergeben will: Seit neun Jahren ist Fellinger bei "equalizent“ beschäftigt, dem "Qualifikationszentrum für Gehörlosigkeit, Gebärdensprache, Schwerhörigkeit und Diversity Management“. Der "Europäische Computerführerschein“ gehört ebenso in sein Portfolio wie das Bildbearbeitungsprogramm "Photoshop“ oder allgemeine Bildungsberatung. Bei "equalizent“ sollen gehörlose Personen das nötige Rüstzeug für ihren beruflichen Lebensweg erhalten - und dabei eben jene Selbständigkeit erlernen, die ihnen aus vielerlei Gründen oft fehlt: "Gehörlose Menschen werden in der Schule weniger gefördert und wissen oft nicht, was sie beruflich überhaupt machen können“, gebärdet Tomas Fellinger der Dolmetscherin. "Aber ich versuche sie zu motivieren und sage ihnen: Ihr müsst selber aktiv werden, selber schreiben, selber, selber, selber!“ Am Anfang sei das mühsam. Aber am Ende des Berufsorientierungstrainings erkenne man viele Teilnehmende kaum wieder.
Wenn Tomas Fellinger von solchen "Empowerment“-Prozessen erzählt, erzählt er im Grunde seine eigene Geschichte. Es ist das Jahr 1958, als er - zwei Monate zu früh und unter Sauerstoffmangel - in Wien geboren wird. Als er sechs Monate alt ist, ahnt seine Mutter, dass mit dem Buben etwas nicht stimmt. Er reagiert nicht auf Laute, brabbelt nicht wie andere Kinder vor sich hin. Ein Arzt bestätigt den Verdacht: Der Bub ist nicht nur schwerhörig, sondern völlig taub.
Eineinhalb Jahre später, im Kindergarten, beginnt er mit Hilfe einer Logopädin ein Sprachtraining, das er insgesamt zehn Jahre lang weiterführen wird. Doch der Erfolg bleibt bescheiden. "Ich habe ja selber keine Kontrolle über meine Stimme“, gebärdet Fellinger. "Ich höre nicht, ob ich laut spreche oder leise, ich kann es nicht kontrollieren.“ Was er lernt, lernt er durch Schauen, durch Beobachten, durch einfache Gebärden für Alltägliches. Auch in der Schwerhörigen- bzw. Gehörlosenschule ändert sich diese Konzentration auf die Lautsprache nicht. Ein Umstand, der bis heute leider weitgehend unverändert ist. "Mir wurde deutlich gemacht: Wehe, du gebärdest, dann wirst du dumm! Aber wenn du sprichst, dann wirst du gescheit“, erinnert er sich.
Erst mit 16 Jahren, nach Ende seiner Schulzeit, stößt Tomas Fellinger im Rahmen eines Gehörlosen-Sportvereins endlich auf die "Österreichische Gebärdensprache“ (ÖGS): Fasziniert beobachtet er, wie bei einer Versammlung 200 Gehörlose miteinander gebärden - doch er versteht kein Wort. Nach und nach bringt er sich selbst die Sprache bei. Die Anweisungen seines Meisters, bei dem er eine Feinmechanikerlehre absolviert, muss er freilich noch mühsam von den Lippen ablesen. Doch Fellinger ist hartnäckig: Er schafft den Lehrabschluss und beginnt in einer Fräserei zu arbeiten, wo er 21 Jahre lang bleibt. Als er im Zuge eines Personalabbaus gekündigt wird und zwei Jahre lang arbeitslos bleibt, besucht er einen Computer- und Grafiker-Kurse bei "equalizent“. Der Rest ist Geschichte.
"Da bin ich endlich aufgewacht!“
"Heute bin ich zufrieden mit meinem Leben“, sagt der Mann mit dem scharfen Blick. Er habe gute Freunde, eine nette Familie und einen erfüllenden Beruf. Sicher frage er sich manchmal: Warum bin ausgerechnet ich taub? Doch dann vergesse er es schnell wieder. Dass die Gebärdensprache seine Muttersprache sei, habe ihm spätestens der Weltkongress der Gehörlosen 1996 in Wien vor Augen geführt. "Da bin ich endlich aufgewacht“, gebärdet Fellinger, während ein Koffer auf zwei Beinen vorbeispaziert.
Nur die geringe Zahl an Dolmetscherinnen sei manchmal ein Problem: Während es für die rund 10.000 gehörlosen Menschen in Österreich nur etwa 100 Dolmetscher gebe, seien es in Schweden bei ebenso vielen Betroffenen zehn Mal so viel. Ansonsten habe er den Alltag gut im Griff. "Nur manchmal ist es mühsam, wenn mich jemand nach dem Weg fragt und gleich flüchtet, sobald ich ihm verdeutliche, dass ich nichts hören kann. Aber das ist OK. Er hat halt ein Problem mit mir - aber ich nicht mit ihm.“