Der Mythos vom strebenden Bemühen

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Johann Wolfgang von Goethes "Faust" ist ein mythischer Stoff mit ungebrochener Anziehungskraft und das meistzitierte Werk der deutschsprachigen Literatur.

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Johann Wolfgang von Goethes "Faust" ist ein mythischer Stoff mit ungebrochener Anziehungskraft und das meistzitierte Werk der deutschsprachigen Literatur.

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Von allen Gestalten der Weltliteratur wird Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1999 die gegenwärtigste sein. Er wurde vor 250 Jahren, am 28. August 1749, geboren. Die Anzahl der Ausstellungen, Festivals, Symposien, Buchneuerscheinungen und Inszenierungen seiner Stücke wird Rekordhöhe erreichen. Sein berühmtestes Werk, die Tragödie in zwei Teilen "Faust", macht bewußt, daß es nicht nur einen genialen Deutschen zu feiern gilt, sondern einen wahren Europäer, der sich umfassend fremde Geistesschätze angeeignet hat. Denn Goethe hat den Mythos von Faust nicht erfunden. Dieser jüngste aller europäischen Mythen entstand im 16. Jahrhundert. Ein Mythos ist eine anschauliche, exemplarische Geschichte, die etwas über das Wesen der Welt und der Menschen erklärt. Der Faustmythos zeigt einen neuzeitlichen Menschen, der Grenzen sprengen will, der besessen ist von dem Wunsch, so viel zu wissen wie nur möglich und der bereit ist, sich dieses Wissen durch eine Verbindung mit dem Bösen zu erkaufen. Was das Böse ist, läßt sich heute nicht mehr so leicht sagen wie im 16. Jahrhundert, wo es mit dem Teufel gleichgesetzt wurde. Grenzüberschreitungen freilich locken gegenwärtig die Wissenschaftler mehr denn je, man denke nur an die jüngsten Klon-Experimente.

Epochenumbruch War "Doctor Johann Faust" eine historische Gestalt? Mehrere deutsche Städte streiten um die Ehre, Geburtsort dieses Mannes gewesen zu sein, der nach einem Leben als Wandermagier und Zauberer ungefähr 1530 gestorben sei. Unter den Gelehrten herrscht Uneinigkeit bezüglich der realen Person Faust. Was sich aber nachweisen läßt, ist eine blühende Volksliteratur ab der Mitte des 16. Jahrhunderts. Da gab es schon den ersten Bestseller, das Volksbuch "Historia von Doctor Johann Fausten, dem weytbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler" aus dem Jahr 1587. Die Anziehungskraft der Figur läßt sich wohl aus dem großen Epochenumbruch jener Zeit erklären. Die Entdeckung Amerikas lag wenige Jahrzehnte zurück; große Erfindungen naturwissenschaftlicher Instrumente, zum Beispiel des Thermometers und des Barometers, ermöglichten es, die Natur meßbar zu machen. Die Autorität der Kirche, ungebrochen über das ganze Mittelalter, begann zu bröckeln. Die Menschen entdeckten ihr eigenes kreatives wissenschaftliches Vermögen. Das war die Stunde des Doctor Faust.

Erzählt wird in dem Volksbuch die Geschichte eines Wissenschaftlers, der sich mit dem Teufel auf einen Pakt einläßt: 24 Jahre lang soll er Gold, Glück, schöne Frauen bekommen; im Gegenzug verschreibt er dem Satan seine Seele. Am Ende der Frist möchte der Teufelsbündler doch zu Gott zurückkehren, aber der Rachen der Hölle ist schon aufgetan. Bald kursierten Gerüchte, Faust habe Zauberbücher zurückgelassen, die sogenannten "Höllenzwänge", mit deren Zaubersprüchen man die Hölle zwingen könne, den Wünschen des Beschwörers zu gehorchen. Solche Höllenzwänge wurden von Fälschern um hohe Summen verkauft.

Das deutsche Volksbuch von "Doctor Faust" erlebte bereits im 16. Jahrhundert Übersetzungen ins Dänische und Holländische, Französische und Tschechische. Besonders produktiv wirkte sich die englische Übersetzung aus. Die erste Dramatisierung des Mythos von weltliterarischem Rang ist "The Tragicall History of the Life and Death of Doctor Faustus" von Christopher Marlowe aus dem Jahr 1592. Marlowe verwendete das deutsche Volksbuch. Für die weitere Entwicklung des Fauststoffes hat das wortgewaltige Drama des Engländers eine überragende Bedeutung, weil es als Puppen- und Volksschauspiel bald in ganz Europa gespielt wurde. Das fünfjährige Kind Goethe ist dem Faust zum erstenmal in Frankfurt durch eine englische Wanderbühne begegnet.

Ehe Goethe den Mythos zu einem lebensbegleitenden Projekt machte, gab es einen anderen Großen, der brillant daran scheiterte: Gotthold Ephraim Lessing. Dieser hat sein Faust-Stück nie zu Ende geführt, und doch markiert er einen wichtigen Punkt in der Geschichte des Mythos. Lessing, dieser Geist des Widerspruchs, fragte sich: Was passiert, wenn Fausts Wißbegierde und sein Wunsch, Grenzen zu überschreiten, gar keine Sünde ist, sondern eine erstrebenswerte Eigenschaft? Im 16. Jahrhundert noch galt die "curiositas", wie man es gelehrt auf lateinisch sagte, das Wissenwollen um seiner selbst willen, als schwere Sünde. Lessing hingegen behauptete, der Mensch solle neugierig sein, die Welt erforschen und entdecken. Der Aufklärer kam damit aber in Schwierigkeiten mit seinem Faustdrama. Denn indem er Faust als uneingeschränkt positive Figur beschrieb, war kein Platz mehr für den Teufel und den Teufelspakt. Fausts Höllenfahrt kam nicht mehr in Frage. Lessing zog sich folgendermaßen aus der Affäre: er erzählte, sein fertiges Faust-Manuskript sei in einem Koffer auf einer Reise verloren gegangen.

Lebenslanges Projekt Ein Kind sieht ein Theaterstück. Ist gepackt. Herangewachsen, fällt dem jungen Menschen dieses Erlebnis wieder ein. Er formt das Thema neu, in seinem Sinn. Dieser Sinn weitet sich im Lauf eines langen Lebens, und das Stück nimmt die gesamte geistige Entwicklung des Dichters auf. Wenige Wochen vor seinem Tod legt der nun alte Mann letzte Hand an sein Hauptwerk: So ungefähr kann man sich das Werden von Goethes "Faust" vorstellen.

Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehen; der Geist, der stets verneint; zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust; da steh ich nun, ich armer Tor; hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein; Heinrich, mir graut vor dir; am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles; Blut ist ein ganz besondrer Saft; der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an; das ist des Pudels Kern; wer immer strebend sich bemüht: "Faust" ist das meistzitierte Werk der deutschen Zunge, gefolgt von Schillers "Glocke" und dem "Wilhelm Tell".

Faustisches im Sport Wo immer man in Politikerreden, Zeitungen, im Fernsehen auf eine einprägsame Wendung stößt, ist die Chance groß, daß sie aus Goethes "Faust" stammt. Nicht selten wird - dem Anlaß entsprechend - umgeformt: Ein Sportreporter auf SAT 1 kommentierte die Torwartleistung des Torhüters von Borussia Dortmund kürzlich mit dem leicht abgewandelten Faustvers: "Wer immer strebend sich bemüht, der bleibt am Schluß auch unbesiegt." Längst haben sich die Faust-Zitate verselbständigt. Wie sehr, berichtet die Faust-Forscherin Friederike Schmidt-Möbus aus Göttingen: "Wir sahen uns im Kino die Filmfassung des ,Faust' von Gründgens an. Hinter uns saß eine Reihe Studierender. Nachdem der Film zu Ende war, sagte ein Student laut und empört: ,Hat der Goethe aber viele Redewendungen aus dem Volksmund verbraten!' Er verwechselte Ursache und Wirkung: Goethes Formulierungen sind so stark Teil unseres Sprachschatzes geworden, daß der Schöpfer aus dem Blickfeld geraten ist."

12.111 Verse umfassen die beiden Teile des Goetheschen "Faust". Der Tragödie erster Teil erschien 1808, der zweite 1832, im Todesjahr Goethes. Er hat den Mythos vom unbedingt strebenden, forschenden Menschen stofflich gewaltig verändert. Die erste große Veränderung betrifft Fausts Ende. Im Unterschied zu allen vorherigen Überlieferungen wird Faust bei Goethe gerettet. Die göttliche Instanz greift zugunsten des Teufelsbündlers ein: "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen." Der zweite große Eingriff Goethes ist seine Gretchengeschichte. In älteren Faust-Bearbeitungen muß der Teufel seinem Paktpartner auch ein Liebchen schaffen, doch der Schwerpunkt der Gretchentragödie stammt von Goethe. Hier legt er ein religiöses Bekenntnis ab: Schuld kann vergeben werden. Und Gretchen hat sich schuldig gemacht. Durch ihre Liebe zu Faust ist ihre ganze Familie ausgerottet worden: Die Mutter hat sie versehentlich vergiftet, der Bruder ist von Mephisto und Faust erstochen worden, ihr von Faust gezeugtes Kind hat sie ertränkt. Sie ist bereit, die richterliche Strafe, die Hinrichtung, auf sich zu nehmen, indem sie sich weigert, mit Faust aus dem Kerker zu fliehen. Da tönt vom Himmel eine Stimme: "Sie ist gerettet." Am Schluß des zweiten Teils von "Faust" tritt Gretchen als Fürsprecherin bei der Gottesmutter für Faust auf: Auch er wird der vergebenden Gnade teilhaftig.

Diese stofflichen Veränderungen erklären allerdings nicht den überragenden Rang des Werkes. Der bedeutendste Goethe-Gelehrte unserer Zeit, Albrecht Schöne, hoch gerühmter Herausgeber und Kommentator der Tragödie, sieht in dem Werk nicht nur die gedankliche Summe eines genialen Geistes, sondern wertet den "Faust" auch als umfassende Aneignung fremder Schätze. Das zeigt sich zum Beispiel im Formalen. Alle Versmaße des Abendlandes haben hier ihren Platz gefunden, es ist eine Summa metrica, die eine kulturgeschichtliche Aura erzeugt. Klassische Versmaße charakterisieren Figuren aus der Antike, etwa Helena; für den deutschen Stubenhocker Faust sind die Knittelverse, diese urdeutsche derbe Versform, charakteristisch. Auch die Reime sind eng mit dem Inhalt verschmolzen. Die Liebesbeziehung zwischen Faust und Helena im zweiten Teil bezeugt sich im Medium des Paarreims; die Gebetserhörung durch die Gottesmutter am Schluß in dem des Kreuzreims. Das Werk erschließt sich dem Gelehrten als eine Fundgrube desDenkens; es kann gelesen, vorgelesen und schließlich auf der Bühne lebendig gemacht werden.

Die Anziehungskraft der Rolle des Faust beschrieb der Burgschauspieler Martin Schwab, der bereits vierzehn Rollen aus "Faust I" und "Faust II" verkörpert hat, jedoch noch nie den Faust selbst: "Wenn mir ein Regisseur diese Rolle zutrauen würde, ich ginge dafür zu Fuß nach Rom. Und ich würde mich von Mephisto, dem schauspielerischen Glanzstück des Dramas, ganz bestimmt nicht an die Wand spielen lassen."

Weitere Beiträge werden sich in loser Reihenfolge Goethes "Faust" widmen.

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