Der Philosoph mit dem Schürhaken

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Zum 50. Todestag des großen, in Wien geborenen Philosophen Ludwig Wittgenstein.

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Zum 50. Todestag des großen, in Wien geborenen Philosophen Ludwig Wittgenstein.

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Von einer solchen Prüfung können gewöhnliche Doktoranden nur träumen: "Meiner persönlichen Meinung nach das Werk eines Genies", hatte einer der beiden Prüfer auf das Formular geschrieben, mit dem die Doktorarbeit eingereicht worden war. "Gegenüber seinen Lawinen wirken meine wie Schneebälle" hatte der andere schon Jahre zuvor eingestanden, nun wusste er auf die Ausführungen des Prüflings nicht mehr zu sagen als: "So etwas Absurdes habe ich mein Leben lang noch nie gehört". Es begann eine unzusammenhängende Diskussion, an deren Ende der Doktorand seinen Prüfern auf die Schulter klopfte und ihnen Trost zusprach: "Macht Euch nichts draus, ihr werdet es nie verstehen".

George Edward Moore und Bertrand Russell hießen die Prüfer, beide damals, 1929, hochangesehene Philosophieprofessoren, Ludwig Wittgenstein der Prüfling. "Vielleicht das beste mir bekannte Beispiel eines Genies im traditionellen Sinne - leidenschaftlich, tiefgründig, intensiv und dominant": so beschrieb Russell seinen Schüler, der ihn schon lange vor der bizarren Prüfung überflügelt hatte. In einer Umfrage unter Berufsphilosophen nach dem wichtigsten Denker der Philosophiegeschichte belegte Wittgenstein, dessen Todestag sich nun zum 50. Mal jährt, hinter Aristoteles, Platon, Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche den fünften Rang.

Ludwig Wittgenstein stammte aus einer der reichsten österreichischen Familien, sein Vater hatte es als Industrieller und Stahlmagnat zu einem riesigen Vermögen gebracht. Clara Schumann, Gustav Mahler und Johannes Brahms gehörten zu den Freunden des Hauses. Kein Wunder dass der am 26. April 1889 in Wien geborene Ludwig eine Zeitlang erwog, Dirigent zu werden. Doch seine musikalischen Fähigkeiten sollten sich in Zukunft darauf beschränken, seinen Freunden - wohl nicht unbedingt zu deren Vergnügen - ganze Symphonien und Konzerte vorzupfeifen. Als 19-Jähriger ging er nach England, um Aeronautik zu studieren. 1910 entwarf er einen Flugzeugmotor, der das Düsentriebwerk vorwegnahm, doch sein Genie sollte sich auf einem anderen Gebiet entfalten.

1911 drückte er dem damaligen Starphilosophen Russell ein paar Blätter in die Hand und fragte ihn - in etwa dieser Diktion - ob er, Wittgenstein, ein kompletter Idiot sei oder ob er das Zeug zum Philosophen habe. Nach der Lektüre der Unterlagen riet Russell dem jungen Mann, es mit der Philosophie zu versuchen.

Auf welch groteske Weise sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis in Bezug auf den genialen Studenten Wittgenstein schon bald umkehrte, zeigt folgende Episode: 1912 quartierte sich Wittgenstein in einem norwegischen Dorf ein, um in Ruhe seinen Studien nachzugehen. Bald zitierte er seinen Lehrer Moore zu sich. Die Aufgabe, die Wittgenstein seinem späteren Doktorvater zugedacht hatte, war die eines Sekretärs. Moore schrieb auf, was Wittgenstein ihm diktierte, immer wieder musste er Beschimpfungen über sich ergehen lassen, wenn er seines Studenten Worte nicht sofort begriff.

1914 trat Wittgenstein freiwillig in die österreichisch-ungarische Armee ein, in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges brachte der mehrfach ausgezeichnete Offizier seine philosophischen Überlegungen zu Papier. Als er bei Kriegsende in Gefangenschaft geriet, hatte er jenes Werk, das ihn berühmt machen sollte, als fertiges Manuskript im Rucksack: Die "Logisch-philosophische Abhandlung", den "Tractatus logico-philosophicus" - ein schmaler Band, dessen apodiktische Sätze auf eigenwillige und oft kopierte Weise durchnummeriert sind.

Für den frühen Wittgenstein beruhen die allermeisten Probleme, über denen die Philosophen über die Jahrhunderte und Jahrtausende gebrütet haben, auf sprachlichen Missverständnissen. "Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig", behauptet er im "Tractatus" unter Punkt 4.003. Die "richtige Methode der Philosophie" beschreibt er unter 6.53: "Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft - also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat -, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, dass er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend - er hätte nicht das Gefühl, dass wir ihn Philosophie lehrten - aber sie wäre die einzig streng richtige." Damit freilich wird das Betätigungsfeld der Philosophie radikal eingeschränkt. Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen, stellt Wittgenstein im Vorwort des "Tractatus" fest, der mit dem berühmten Satz endet: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."

Der "Tractatus" ist gewissermaßen die Initialzündung für den linguistic turn, für die Wende zur Sprache, die das zentrale Ereignis der Philosophie des 20. Jahrhunderts darstellt. "Alle Philosophie ist Sprachkritik", heißt es bei Wittgenstein (4.0031), wobei für ihn nur die exakten, quasi-mathematischen formalen Sprachen der Logik zählen. Wittgensteins Welt besteht nicht aus Dingen, sondern aus Tatsachen: "Die Welt ist alles, was der Fall ist", lautet der erste Satz des "Tractatus". Tatsachen haben die Struktur von Sätzen, daher entspricht die Struktur der Welt der Struktur der (logischen) Sprache. Das ist eine radikal neue Sicht der Wirklichkeit.

Aus seiner im Vorwort verkündeten Überzeugung "die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben", zog er die für ihn schlüssigen Konsequenzen: 1919 verschenkte er einen Teil seines Vermögens an bedürftige Künstler, darunter Georg Trakl und Rainer Maria Rilke, den Rest seines Erbteils überschrieb er seinen Geschwistern. Er zog sich aus dem akademischen Betrieb zurück und wurde Dorfschullehrer in Niederösterreich. Im Zuge dieser Tätigkeit verfasste er das vielbenutzte "Wörterbuch für Volksschulen", sein neben dem "Tractatus" einziges zu Lebzeiten veröffentlichtes Buch. Für kurze Zeit nahm er sogar eine Stelle als Hilfsgärtner in einem Kloster an, wo der Milliardärssohn im Geräteschuppen übernachtete.

In der Welt der Philosophie hatte der "Tractatus" inzwischen wie eine Bombe eingeschlagen, vor allem im Wiener Kreis, einer Gruppe von Philosophen um Rudolf Carnap und Moritz Schlick, die auf die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf die Philosophie bestanden. "Wittgenstein ist für sie alle Gott", mokierte sich der Philosoph Alfred Ayer über die beinahe religiöse Verehrung Wittgensteins durch den Wiener Kreis.

Doch der Messias, der nie Mitglied des Kreises war, blieb stets auf Distanz zu seinen Jüngern. Im Gegensatz zu jenen nämlich hielt Wittgenstein Metaphysik, moralische Betrachtungen und Spiritualität nicht prinzipiell für Schwachsinn. In einem Brief bezeichnete er den Sinn des "Tractatus" gar als einen ethischen: "Mein Werk besteht aus zwei Teilen: aus dem der hier vorliegt und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser Teil ist der Wichtige. Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von innen her begrenzt." "Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische", hatte er schon im "Tractatus" angemerkt (6.522). Bei den raren Begegnungen mit ihrem Idol konnten die strengen Neopositivisten es nicht fassen, einem Gedichte rezitierenden Halbmystiker gegenüberzusitzen.

Ende der zwanziger Jahre kehrte Wittgenstein schön langsam wieder in die Welt des Geistes zurück. Für seine Schwester plante und baute er ein Haus in der Wiener Kundmanngasse, das mit seiner asketischen Sachlichkeit als hausgewordene Logik gilt. 1929 kehrte er nach Cambridge zurück, brachte seine groteske Doktoratsprüfung hinter sich - und revidierte mit größter Rücksichtslosigkeit alles, was er bisher gedacht hatte.

Diese neue Philosophie, im Fachjargon "Wittgenstein II" genannt, geht nicht mehr von formalen Sprachen aus, sondern von der Sprache des Alltags. Diese ist die ursprünglichste Welt, in der der Mensch lebt und an die sich darum auch die Philosophie halten muss: "Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache", gibt sich Wittgenstein nun pragmatisch. Er vergleicht die Sprache mit einem Spiel, dessen Regeln in unsere "Lebensformen" eingebettet sind und im Prinzip frei wählbar sind. Bis 1947 unterrichtete er seine neue Lehre, dann gab er seinen Lehrstuhl in Cambridge auf. Am 29. April 1951 starb er im Haus eines befreundeten Arztes an Prostatakrebs.

Als Universitätslehrer zog er weniger Studenten, als vielmehr Jünger an, die nicht nur seine Gedankengänge, sondern auch seine Kleidung und seine Sprechweise imitierten. "Er war wie eine Atombombe, wie ein Tornado", erinnert sich Wasfi Hijab, der noch heute beklagt, dass Wittgenstein sein intellektuelles Fundament zerstört habe. Nach eigenen Angaben brauchte er ein halbes Jahrhundert, um sich von seiner "Überbelichtung" durch Wittgenstein zu erholen. "Jedes Gespräch mit Wittgenstein war, als ob man den Tag des Jüngsten Gerichts durchlebte. Es war furchtbar. Alles wurde ständig neu ausgegraben, hinterfragt und Wahrhaftigkeitstests unterzogen. Dies galt nicht nur für Philosophie, sondern das ganze Leben", erinnert sich Georg von Wright, der ihm in Cambridge auf seinem Lehrstuhl nachfolgte.

Welch schwieriger, ja gestörter Charakter Wittgenstein war, ist in dem jüngst erschienenen Buch "Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte" nachzulesen (siehe Seite 19). Er neigte zumindest zu verbaler Brutalität, ob er Karl Popper tatsächlich mit einem Schürhaken bedroht hat, wird wohl ein Rätsel bleiben - obwohl Wittgenstein der Überzeugung war, es gebe keine Rätsel. Ständig brüskierte er seine Mitmenschen, weil er mit seiner schlechten Meinung über sie nicht hinter dem Berg hielt. Doch er litt auch an sich selbst, Selbstmordgedanken begleiteten ihn sein Leben lang. Er konnte den Strom seiner Gedanken nicht abstellen, zu entspannen fiel ihm außerordentlich schwer. Am ehesten gelang ihm das im Kino oder bei der Lektüre harter amerikanischer Kriminalromane. Sein Lieblingsdetektiv war Max Latin, eine Figur aus der Feder eines gewissen Norbert Davis, dessen Stil ebenso klar und schnörkellos war wie das Denken des großen Philosophen.

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