Der Planet der Blinden

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Das schöne, rührende, ermutigende Buch des Stephen Kuusisto. sdfsdf

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Das schöne, rührende, ermutigende Buch des Stephen Kuusisto. sdfsdf

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Sollte es einen Preis für das beste Buch eines Blinden über sein Leben geben, müßte ihn Stephen Kuusisto bekommen. Sein Buch "Der Planet der Blinden" ist eines der besten Bücher über das Leben Behinderter seit Helen Keller. Und vielleicht das beste über Blindheit. Wer Helen Keller gelesen hat, weiß: Das will etwas heißen.

Es gibt, diesseits der totalen Blindheit, der Blindheit ohne die geringste Spur von Sehvermögen, viele Grade und viele Arten von Blindheit. Stephen Kuusisto ist praktisch blind - auch das kann vieles bedeuten. Fünf Prozent Sehvermögen ermöglichten es ihm, mit größter Mühe zu lesen, mit den Augen dicht am Papier. Vor der Verschlechterung seines Zustandes konnte er sich auf der Straße fast nicht orientieren, seither gar nicht mehr. Seine Art von Blindheit war verhältnismäßig häufig, seit man Frühgeburten im Brutkasten mit Sauerstoff behandelte und über die Schädlichkeit zu hoher Sauerstoffdosierungen für die Augen Frühgeborener noch nicht Bescheid wußte, beziehungsweise bevor man das Problem im Griff hatte.

Stephen Kuusisto nahm als Kind und junger Mann seine Blindheit nicht an, versuchte, sie einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen. Genauer gesagt, seine Mutter versuchte, ihm "ein normales Leben zu ermöglichen", weil sie selbst nicht bereit oder in der Lage war, die Behinderung ihres Kindes zur Kentnnis zu nehmen. Stephen entsprach einfach der Erwartungshaltung seiner Eltern, als er mit dem Fahrrad fuhr wie ein Sehender, wobei er selbstverständlich eine lange Reihe übler Stürze baute, aber doch gewaltiges Glück hatte - einfach deshalb, weil er trotz allem noch lebt.

"Auf der Nase eine teleskopartige Brille, litt ich an grauenhaften Kopfschmerzen, fuhr aber trotzdem Rad - mit gewaltigen Adrenalinstößen als einziger Sicherheit. Wie fährt man Rad, wenn man nicht sehen kann? Man hält seinen Kopf wie eine steife Blume und neigt ihn dem Licht zu. Man denkt überhaupt nicht an die Gefahren - zum Beispiel an die physikalische Beschaffenheit von Bordsteinen und Straßenpflastern. Statt dessen unterwirft man sich der heiligen Ordnung des Unausweichlichen und wirbelt los ... Etwas Dunkles erhebt sich vor Ihnen. Ist es ein Baum oder ein Schatten? Ein Schatten oder ein Lkw ... Ich senke mein Gesicht auf den kalten Lenker hinab, beschließe, daß es ein Schatten ist, ein Loch im Sonnenlicht, und strample geradewegs hindurch. Jetzt kommt noch ein Schatten und noch einer. Ich reiße den Lenker herum, lande in hohem Gestrüpp. Insekten krabbeln mir ins Haar, kleben in meinem verschwitzten Gesicht. Von der Straße kommt das verärgerte Knirschen von Reifen auf Schotter, ein Auto röhrt vorbei. Waren meine Radfahrjahre ein versicherungsstatistisches Geschenk? Wer war sonst noch auf der Straße, als ich gegen die Fahrtrichtung fuhr? Habe ich ausgerechnet an dem Tag damit aufgehört, als mein letztes Stündlein geschlagen hätte? Ich fuhr von meinem zehnten bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr Rad; in den letzten zehn Jahren nur noch gelegentlich, eher heimlich, ohne groß nachzudenken, wie jemand, der Drogen nimmt. Spätestens mit zwanzig wußte ich, daß es gefährlich war. Als Kind hatte ich nur das tiefsitzende Bedürfnis, gleich zu sein."

Kuusisto studierte und arbeitete mehrere Jahre als Dozent für Literatur. Nun schildert er den langen Weg zur Einsicht, daß er nicht so ist wie die anderen und nie so sein wird. Den langen und schmerzhaften Weg bis zu dem Punkt, an dem er bereit ist, sich mit dem Blindenstock anzufreunden. Und zur Begegnung mit dem Hund. Die Labradorhündin Corky hat Kuusistos Leben völlig verändert und die Stellen, an denen er seine Beziehung zu diesem Tier schildert und die Dankbarkeit und Zuneigung beschreibt, die er für Corky empfindet, gehören zu den berührendsten dieses spannenden und rührenden, klugen, ehrlichen, gut geschriebenen und in jeder Hinsicht sympathischen Buches. Sehr informativ ist es übrigens auch.

Manches, was man da erfährt, ist eher überraschend. Zum Beispiel, wie unterentwickelt die Einrichtungen für Blinde in Teilen der USA sind, wie ahnungslos viele Lehrer, wie wenig Rücksicht auf die Probleme und Bedürfnisse von Blinden dort genommen wird. Andere US-Staaten verfügen über moderne Einrichtungen. Kuusisto hat Glück, er hat eine interessante Arbeit: Er leitet eine Schule, in der sehbehinderte Studenten lernen, ihren Alltag zu bewältigen.

So, wie er seine spezifische Sehbehinderung (Frühgeborenen-Retinopathie, Nystagmus und starkes Schielen als zusätzliche Komplikationen) beschreibt, scheint ihm die Krankheit als kleine Entschädigung für die schwere Behinderung faszinierende ästhetische Erlebnisse zu bescheren: "Meine Art von Blindheit läßt mich Farben und Formen erkennen, die wie zerzaust aussehen; der große Bahnhof ist zauberhaft mit seinen schwankenden tannengrünen Dunkelheiten und den plötzlich auftauchenden Tümpeln aus rosafarbenem elektrischen Licht. Wir wissen nicht, wo wir sind; die Welt mag gefährlich sein, aber sie ist auch beängstigend schön ...

Ich betrachte die Welt wie durch verschmierte, gesprungene Fensterscheiben. Die Formen und Farben vor mir erinnern mich an die Segel von Tristans Schiff oder an ein in der Luft schwebendes Elefantenohr, dabei handelt es sich um einen Mann mittleren Alters in einem altmodischen englischen Regenmantel, der sich hinter ihm im Aprilwind bläht. Er sieht aus wie einer der großen toten Griechen in Homers Beschreibungen der Unterwelt. In den Verzerrungen des Sonnenlichts oder der Abenddämmerung überquert jeder, dem ich begegne, Charons Fluß. Menschen schimmern wie Bienenkörbe."

Der Nystagmus läßt die Augen unkontrolliert zucken, dies macht es Kuusisto fast unmöglich, den Blick gezielt auf etwas zu richten. Bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr konnte er eine halbe Stunde lang lesen, wenn er das linke Auge fast aufs Papier drückte und der Druck groß und kräftig genug war. Eine inoperable Linsentrübung machte auch dies unmöglich.

Kuusistos Buch ist ungemein poetisch, stellenweise lyrisch, er pendelt zwischen Selbstironie, Galgenhumor, Bitterkeit und einem schier unverwüstlichen Lebenswillen. Und in mancher seiner Anekdoten ist unglaublich viel Komik. Er erzählt von Blinden, die sich Pistolen kaufen. Von Blinden, die auf Parkplätzen im Auto Runden drehen. Und von seinem blinden Freund, der sich in die Fernsehabteilung eines Kaufhauses vortastete, um einen großen, teuren Fernseher zu kaufen. Und den ein anständiger Verkäufer davon überzeugen wollte, der kleinste, billigste Schwarzweißfernseher sei doch für ihn viel praktischer, weil der Ton genauso gut sei. Der Blinde kaufte das teure Ding. ",Aber warum?' fragte der Verkäufer, fast flehend. - ,Weil Blinde Angehörige haben, die Farbe mögen.'"

DER PLANET DER BLINDEN Von Stephen Kuusisto Übersetzung: Ute Hempen Blessing Verlag, München 1998 255 Seiten, geb., öS 248,

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