nitsch - © Foto: APA / Sven Hoppe/dpa (1); Ian Hem (1)

Hermann Nitsch: Der Prediger der Leibhaftigkeit

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Hermann Nitsch wühlt in tierischen Gedärmen - und in den Tiefenschichten der menschlichen Psyche. Am 29. August wird der Wiener Künstler, der Zeit seines Lebens nur eine große Vision verfolgt hat, 80 Jahre alt. Fragen und Antworten zu seinem umstrittenen Werk.

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Hermann Nitsch wühlt in tierischen Gedärmen - und in den Tiefenschichten der menschlichen Psyche. Am 29. August wird der Wiener Künstler, der Zeit seines Lebens nur eine große Vision verfolgt hat, 80 Jahre alt. Fragen und Antworten zu seinem umstrittenen Werk.

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Seit rund sechs Jahrzehnten verfolgt Hermann Nitsch die monumentale Idee seines "Orgien Mysterien Theaters" (OMT). Ästhetische Komponenten wie Malerei, Aktion, Musik oder Installation sollen in einem groß angelegten Gesamtkunstwerk zusammenfließen. Wenig bekannt ist, dass Nitsch sein Werk mit umfangreicher Theorie untermauert und dabei viele philosophische Einflüsse verarbeitet hat.

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1. Was will Nitsch mit seiner Kunst überhaupt? Die Provokation war vor allem im Frühwerk ein zentrales Moment. In einem Wiener Keller fanden die ersten Wühl-und Schüttaktionen mit Tierblut und Gedärmen statt. Der Skandal lag in der Luft, die Polizei wurde gerufen, Nitsch musste sogar ins Gefängnis. Doch seinem ursprünglichen Anliegen ist er stets treu geblieben: Der Künstler will Ekelschranken überwinden, das Nervenkostüm strapazieren, Ausnahmezustände und Grenzerfahrungen herbeiführen, all das im geschützten Rahmen der Kunst. Es geht um die dramatische Konfrontation mit dem Sinnlichen, um Sinnesschulung und -übersteigerung. Nitsch beruft sich u. a. auf Sigmund Freuds Theorie des Unbewussten und auf die psychologische Struktur der antiken Tragödie. Er spricht von Katharsis und Läuterung, vom heilsamen Ausagieren verdrängter Triebenergien. Vielleicht ist das "Orgien Mysterien Theater" ein Werk, das am ehesten vom Schrecken des Todes her zu verstehen ist: Das Leben ist endlich, man sollte es nicht verschlafen -radikale Daseinsintensivierung steht daher auf dem Programm, jenseits zivilisatorischer Schranken und Konventionen.

Das ‚Orgien Mysterien Theater‘ ist ein Werk, das am ehesten vom Schrecken des Todes her zu verstehen ist: Das Leben ist endlich, radikale Daseinsintensivierung steht daher auf dem Programm.

2. Ist das "Orgien Mysterien Theater" pervers? Durchaus, wenn man es im Sinne Freuds betrachtet: Laut Psychoanalyse durchlaufen Kleinkinder ein Stadium der "polymorphen Perversität", in dem das Lustempfinden noch nicht durch gesellschaftliche Normen und Sanktionen kanalisiert ist. Nitsch hat enorm viel Inspiration von Freud bezogen und sieht in der Aktualisierung dieser verdrängten Tendenzen ein befreiendes Moment. Das Wühlen und Schütten, das Stampfen und Besudeln, das Sich-rundum-Beschmutzen im Rahmen der Aktionen erinnern so gesehen an frühkindliche Lusterfahrungen. Kritiker wie Kristian Sotriffer erkennen im OMT daher bloß ein "infantiles Abreaktionsspiel". Manche Darsteller im Aktionstheater sind nackt, doch diese Nacktheit ist weniger erotisch als vielmehr existenziell. Bei der Umsetzung seiner gewagten Ideen ist Nitsch nie auf Abwege geraten, ganz im Gegensatz zu seinem frühen künstlerischen Wegbegleiter Otto Muehl, der unter dem Deckmantel eines Kunstprojekts in der Kommune Friedrichshof faschistoide Strukturen etabliert und sexuellen Missbrauch praktiziert hat.

3. Welche Rolle spielt der Alkohol im "Orgien Mysterien Theater"? Nitsch versteht sich als dionysischer "Rauschkünstler" im Sinne Nietzsches und bekennt, sein Leben lang viel getrunken zu haben. "Ich erschloss mir die Kunst, dass der richtige Genuss von Wein unheimlich viel Freude bringen kann", sagt er im Gespräch mit Danielle Spera ("Hermann Nitsch. Leben und Arbeit", 3., überarb. Auflage, Leykam 2018). Nitsch liebt die Heurigen-Kultur und erweist ihr im OMT musikalisch und kulinarisch die Reverenz. Bei den Aktionen wird reichlich Wein ausgeschenkt, auch das Publikum soll sich berauschen: Alkohol wirkt auflockernd, anregend und enthemmend; er mindert die rationale Kontrolle und steigert die Empfänglichkeit für die abgründige Bildsprache des Mysterientheaters. Essen und Trinken ist für Nitsch Teil des Gesamtkunstwerks, entsprechend wird das Weintrinken den Aktionsabläufen angepasst: "üppigst, exzessiv und maßlos" oder "meditativ, festlich und still". "Ein Rausch muss aufgebaut werden wie ein Kunstwerk", heißt es in der Theorie des OMT.

Nitsch-2 - Mit Günter Brus (geb. 1938), Otto Muehl (1925–2013) und Rudolf Schwarzkogler (1940–1969) ist Herrmann Nitsch einer der Vertreter des Wiener Aktionismus. Zu seinem 80. Geburtstag zeigt der ORF am 27.8. die Film-Doku „Das Universum des Hermann Nitsch“ (23.30 Uhr, ORF 2). - © Foto: APA / Georg Hochmuth
© Foto: APA / Georg Hochmuth

Mit Günter Brus (geb. 1938), Otto Muehl (1925–2013) und Rudolf Schwarzkogler (1940–1969) ist Herrmann Nitsch einer der Vertreter des Wiener Aktionismus. Zu seinem 80. Geburtstag zeigt der ORF am 27.8. die Film-Doku „Das Universum des Hermann Nitsch“ (23.30 Uhr, ORF 2).

Eine Frage der Dosierung

4. Wie hält es Nitsch mit der Religion? Manche Kritiker bezichtigen Nitsch der Blasphemie. Ungeachtet dessen nimmt der Künstler gern den Habitus eines pyknischen Predigers an und möchte sein Werk am liebsten im Kontext sakraler Kunst positioniert sehen. In seiner Kunsttheorie bezieht sich Nitsch etwa auf die Mystik von Meister Eckhart. Im OMT stehen christliche Symbole in einer Reihe mit antiken Kulten, denn der Künstler begreift Religion als universellen Prozess, der fortwährend neue Bilder aus dem kollektiven Unbewussten der Menschheit emporsteigen lässt. Die katholische Herkunft freilich trieft dem OMT aus allen Poren -in den Aktionsritualen ebenso wie in der Pracht der barocken Inszenierung. Wie besessen behandelt Nitsch die Themen Schmerz, Tod und Auferstehung. Und auf einer tieferliegenden Ebene zelebriert er eine christliche Botschaft, den Sieg des Lichts über die Dunkelheit. Keine Spur von metaphysischer Obdachlosigkeit, im Gegenteil: Hier wird tiefe metaphysische Geborgenheit inszeniert.

5. Hält die Kunst von Nitsch, was sie verspricht? Bereits im Rückblick auf das "3-Tage-Spiel" des OMT 1984 hat der Kunsthistoriker Peter Gorsen darauf hingewiesen, dass Nitsch' Kunsttheorie und -praxis weit auseinanderklaffen. Daran hat sich seit damals nichts mehr geändert: Der Anspruch auf kreative Partizipation und psychodramatische Selbstverwirklichung der Spielteilnehmer wurde im OMT schon lange zugunsten der ästhetischen Reglements und künstlerischen Größenfantasien aufgegeben. Was bleibt, ist das Diktat der Form und die Ego-Mythologie des Künstlers. Der angestrebte kathartische Effekt bleibt mehr Schein als Sein. Hinzu kommt, dass es bei längeren Aufführungen zur ästhetischen Abstumpfung kommt, wie die bislang längste Aktion, das große "6-Tage-Spiel" 1998, gezeigt hat. Die anhaltende Reizung der Sinne führt allmählich zur Übersättigung, ebenso wie bei anhaltendem Alkoholgenuss allmählich die betäubende Wirkung überhand nimmt. Was für die Droge Alkohol gilt, spielt für das OMT generell eine zentrale Rolle: Alles ist eine Frage der Dosierung.

6. Was wird von Nitsch bleiben? In der Kunstgeschichte hat Hermann Nitsch bereits einen fixen Platz. Zahlreiche akademische Arbeiten befassen sich mit seinem vielschichtigen Werk. Der ehemalige NÖ-Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) hat wohl weitsichtig gehandelt, als er 2007 den Bau eines Nitsch-Museums in Mistelbach ermöglichte. Die im Weinviertel verankerte Kunst von Nitsch könnte zum touristischen Magnetfeld werden. Vielleicht wird Schloss Prinzendorf, sonst nicht unbedingt ein "Hot Spot" der Touristenströme, zum Kunsttempel und Pilgerort. Und womöglich werden nachfolgende Generationen darüber staunen, mit welcher Sturheit und Beharrlichkeit ein Künstler seine Vision verfolgen kann.

Austellung

Hermann Nitsch - Leben und Werk

Jahresausstellung im Nitsch-Museum Mistelbach;
Aktion des Künstlers mit Sinfonie am 1.9.
www.nitschmuseum.at

Dokumentation

Hermann Nitsch

Mit Günter Brus (geb. 1938), Otto Muehl (1925-2013) und Rudolf Schwarzkogler (1940-1969) ist Nitsch einer der Vertreter des Wiener Aktionismus. Zu seinem 80. Geburtstag zeigt der ORF am 27.8. die Film-Doku "Das Universum des " (23.30 Uhr, ORF 2).

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