Der Prototyp aller Everest-Verrückten

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Der Mensch kann jedes Ziel erreichen. Das wollte Maurice Wilson beweisen und machte sich 1933 auf den Weg zum Mount Everest - allein.

Abenteuer ist Krieg, Bergsteigen eine Schlacht, der höchste Berg der Welt der größte Feind. Mit dieser Einstellung zogen britische Epeditionen von Anfang des vorigen Jahrhunderts an in den Himalaya. Der Sieg über den "Dritten Pol“ wurde zum nationalen Interesse des Vereinigten Königreichs. "Wir haben den Bastard umgelegt“, brachte, dieser Logik verpflichtet, Edmund Hillary die Erfolgsmeldung bei seiner Rückkehr vom Gipfel auf den Punkt. Vor 60 Jahren, am 29. Mai 1953 um 11.30 Uhr, hatte er gemeinsam mit Sherpa Tenzing Norgay den Berg niedergerungen. Die beiden hatten "das hellste Juwel des Mutes und der Ausdauer der Krone britischer Anstrengung eingefügt“, jubelten die Zeitungen, und Großbritannien feierte den Gipfelsieg, der just am Tag der Krönung von Elizabeth II. bekannt wurde, als nationalen Erfolg.

Zum Beweis ihrer Besteigung machte Hillary am Gipfel Fotos in jede Himmelsrichtung. Die Aufnahme Richtung Norden schaut nach Tibet, zeigt auch den 3000 Meter tiefer fließenden Rongbuk-Gletscher. In einer Spalte dieses Gletschers liegt seit 1935 Maurice Wilson begraben. 1960 wird ihn der Gletscher wieder freigegeben, der Leichentorso von einer chinesischen Expedition gefunden. Sie bestatten Wilson erneut, doch der Gletscher behält ihn nicht. 1975 finden ihn neuerlich Chinesen, 1985 sichtet ihn eine baskische Expedition, 1989 Amerikaner, und noch heute stößt man abseits der bekannten Pfade im Rongbuk-Tal auf ausgebleichte Knochen jenes Mannes, der erklärt hatte: "Ich werde den Everest allein besteigen!“ Und: "Wenn ich den Everest nicht besteige, wird er in meiner Generation gar nicht mehr bestiegen.“

Mit dieser Prognose liegt Wilson richtig. Sein Versuch einer Alleinbesteigung 20 Jahre vor der Erstbesteigung des Everest aber macht ihn zum Schrecken des Alpin-Establishments. Das offizielle England interpretiert sein Vorhaben als Verhöhnung des Nationalstolzes und versucht ihn mit bürokratischen Hürden zu stoppen, schreibt Peter Meier Hüsing in seiner Wilson-Biographie "Wo die Schneelöwen tanzen“ (Malik 2003). Doch Wilson gibt nicht auf und erntet dafür die Anerkennung von Bergpapst Reinhold Messner: "Maurice Wilson wusste, dass der Mensch mit Gottes Hilfe alles kann. Um es zu beweisen, wollte er den Mount Everest besteigen. Damit begann das bizarrste Kapitel in der Besteigung des Everest.“

"Im Geiste und Fleische“ wiedergeboren

Das Geschwafel von Nation und Heldenmut ist Wilson ein Graus. Das wurde ihm im Ersten Weltkrieg auf den Schlachtfeldern Flanderns ausgetrieben. 1916 hatte sich der Engländer 18-jährig freiwillig gemeldet. Zwei Jahre später kehrt er schwer verwundet und traumatisiert in seine Heimat zurück. Eine Ehrung für außergewöhnliche Tapferkeit und Pflichterfüllung ist das einzige, was ihm bleibt. Die erhoffte Entschädigung für seinen durchschossenen linken Arm, der fast unbeweglich bleibt, wird von der Londoner Behörde abgelehnt. Nur Halbtote bekommen eine Invalidenrente.

Wilson ist nicht halbtot, die Jahre nach dem Krieg lebt er aber nur ein halbes Leben. Der gelernte Wollkaufmann verlässt seine Heimat zuerst in Richtung Amerika, dann Neuseeland. Beruflich wie privat kommt sein Leben auf keine gerade Bahn, seine Geschäfte scheitern, seine Beziehungen gehen in die Brüche. 1931 kommt er zurück nach England. Er lernt das Ehepaar Leonard und Enid Evans kennen. Die tiefe Freundschaft mit den beiden und vor allem die große Liebe zu Enid werden zum Anker seines Lebens, an dem er sich und seine künftigen Ziele festmachen kann.

Vor seinem Höhenflug muss er aber noch einen Absturz überleben. Wilson erkrankt an Tuberkulose und erleidet einen Nervenzusammenbruch. Er wendet sich an einen Heiler. Der schickt ihn mit dem Rezept, zu beten und zu fasten, in die Einsamkeit. Dort meditiert Wilson das Johannes-Evangelium. Er reduziert seine Mahlzeiten bis er sich nur noch von Wasser ernährt … Nach 35 Tagen ist Wilson geheilt und hält sich für wiedergeboren "im Geiste wie im Fleische“. Bei einer weiteren Fastenkur im Schwarzwald stößt er auf Berichte über die britische Everest-Expedition 1924. Er erfährt von diesem Berg, der alle anderen überragt, so dass die Einheimischen ihm den Namen gegeben haben: "Der so hoch ist, dass kein Vogel über ihn fliegen kann“. Und er liest von George Mallory und Andrew Irvine, die auf 8500 Meter Höhe kletternd zum letzten Mal gesehen wurden, wie sie weiter Richtung Himmel stiegen und nie mehr zurückkehrten.

Jetzt weiß Wilson, was das Ziel seines Lebens ist: Er will, nein, er muss den Everest besteigen. Allein. Fastend. Betend. Nicht zu seinem Ruhm, sondern als Zeichen für andere. Er will zeigen, dass Menschen durch Entsagung zum wahren Kern ihres Lebens kommen, dass Enthaltsamkeit Erfüllung bringt, dass weniger mehr ist. "Was ist denn der Nutzen von Großexpeditionen mit dreihundert und mehr Trägern und vielen Bergsteigern, wenn die Notwendigkeiten für die Aufgabe eigentlich nur ein Zelt, ein Schlafsack, warme Kleidung und Lebensmittel sind?“ schreibt Wilson. Dann macht er sich auf den Weg zum höchsten Gipfel - und niemand und nichts wird ihn mehr aufhalten.

Im August 1980 steigt Reinhold Messner so auf den Everest, wie es Maurice Wilson im Mai 1934 versucht hat. Allein. Auf das Minimum beschränkt. Messner: "Am Everest musste ich schnell sein, das wusste ich. Nachdem ich alles selbst trug, musste ich mich einschränken: an Mitteln, an Essen, an Luxus. Auch an Zeit.“

Allein gegen das British Empire

Dieser Stil ist Wilson vorgeschwebt. Doch er kann seine Theorie nicht in die Praxis umsetzen. Wilson ist kein Bergsteiger. Es grenzt an ein Wunder, dass er überhaupt bis zum Rongbuk-Gletscher gekommen ist. Denn Wilson ist auch kein Flieger. Trotzdem startet er im Mai 1933 mit einem offenen Doppeldecker namens "Ever Wrest“ ("Ewiger Kampf“) in England und schafft es allen Flugverboten, Unwettern und überlangen Etappen zum Trotz über Kairo, Bagdad, die pakistanische Hafenstadt Gwadar und Karatschi bis ins nordindische Darjeeling. Dort stellt sich ihm aber das britische Empire mit aller Macht in die Quere. Der "Verrückte aus Yorkshire“ darf nicht weiter, nicht im Flugzeug, nicht zu Fuß. London verhängt Polizeikuratel über den alpinen Querschläger. Es ist heute nicht nachvollziehbar, warum die Behörden so große Angst vor diesem Einzelgänger hatten. Ein halbes Dutzend Großexpeditionen war bis dato am Everest gescheitert. Wie sollte das damals ein Einzelner schaffen? Wilson musste riesige Überzeugungskraft ausgestrahlt haben.

Und er lässt sich nicht stoppen: Als tauber und stummer Lama verkleidet, durchquert er das tibetische Hochland, 300 Kilometer mit Pässen bis 5500 Meter hoch. "Als Lama muss ich aussehen wie eine Mischung des Prince of Wales bei einer Highland-Versammlung und einem Kaufhaus-Weihnachtsmann“, vertraut er seinem Tagebuch an. Das hält aber fromme Tibeter nicht ab, sich von dem ungewöhnlichen Lama einen Segen zu erbitten.

"… es hatte etwas Erhabenes“

Im April 1934 erreichen Wilson und seine drei Sherpa-Begleiter das Rongbuk-Kloster am Fuß des Everest. Ngawang Tenzing Norbu, der Abt des Klosters, schätzt die spirituelle Motivation des Fremden, seine Achtung für die Natur, seine Demut und Askese. Die anderen "Langnasen“-Bergsteiger, die vor Wilson am Kloster vorbeigekommen sind, haben all das vermissen lassen. Mit dem Segen des Abts steigt Wilson weiter hinauf. Ein fürchterlicher Sturm zwingt ihn zur Flucht, und der Berg lässt ihn entkommen. Beim zweiten Versuch Anfang Juni geben aber der eine oder der andere oder beide nicht nach. Wilson erreicht zwar nicht den Gipfel, aber er kommt an sein Ziel.

Im Jahr darauf wird Wilsons Leiche gefunden und das erste Mal im Gletscher bestattet. Als die Botschaft von Wilsons Tod England erreicht, schwenkt die Stimmung um: Der Anti-Held wird zum Helden. Der britische Bergliterat Frank S. Smythe, Teilnehmer von drei Everest-Expeditionen in den 1930er-Jahren, erklärt wieso: "Ich kann nicht verhehlen, dass ich seine Absichten irgendwie auch bewunderte. Natürlich war es kein ‚Bergsteigen‘, aber es hatte etwas Erhabenes. Männer wie Wilson werden als verrückt erklärt von denen, die eine Handlung nur nach ihren Resultaten beurteilen und weniger nach ihren Motiven, die sie inspirierten, das Unmögliche zu versuchen. Sie starben, aber nur, wenn Scheitern und Erfolg allein nach den Kategorien von Tod und Leben beurteilt werden, dann sind sie gescheitert. Allein Gott weiß, ob sie wirklich scheiterten.“

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