Ольга_Седакова - © Wikimedia / Jewgenija Dawydowa

Olga Sedakova: Der Regen klopft nicht an

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Am 20. Juli hält sie die Eröffnungsrede der Bregenzer Festspiele: Olga Sedakova, Dichterin, Übersetzerin und Philologin, zu Sowjetzeiten nur im Untergrund gelesen, ist eine russische Europäerin, die dem Westen nicht misstraut. Und die ihr orthodoxes Christentum lebt.

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Am 20. Juli hält sie die Eröffnungsrede der Bregenzer Festspiele: Olga Sedakova, Dichterin, Übersetzerin und Philologin, zu Sowjetzeiten nur im Untergrund gelesen, ist eine russische Europäerin, die dem Westen nicht misstraut. Und die ihr orthodoxes Christentum lebt.

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- Und was noch? Wir haben ..., sie dachte nach, rollte die Augen hinauf und schaltete das Sehvermögen aus, wie auf den Barockdarstellungen mystischer Extase: sie sah das Unsichtbare, blätterte darin und ward fündig!
- Wir haben Fleischsalat nach Moskauer Art und Krautsuppe mit Hammelfleisch.
(aus: Olga Sedakova, Die Reise nach Tartu, 1998) In wenigen Strichen ist die russische Serviererin in Pskow gezeichnet: abgrundtief witzig in ihrer postsowjetischen Unfreundlichkeit. Ein Bild in einem Mosaik, das die Blüten einer neuen russischen Realität aufs Korn nimmt.

In bitterer und dennoch liebevoller Ironie ist die Beschreibung jener Zugsreise gehalten, die die Moskauer Dichterin und Philologin Olga Sedakova mit Kollegen zum Begräbnis des verehrten Lehrers Jurij Lotman ins estnische Tartu unternimmt. Keine Sekunde ist unklar, auf welcher Seite die Gruppe von Intellektuellen stand und steht. Jetzt müsse man sich nicht mehr schämen, als Russe nach Estland zu kommen, sagt einer. Alle wünschen "dem von uns endlich be-freiten Estland" das Beste. Bitterer Nachsatz: "Es war auch früher spürbar freier von uns als wir selbst." "Die Reise nach Tartu und zu-rück" ist eine der beiden Erzählungen Olga Sedakovas, die im Buch "Reise nach Brjansk" auch auf Deutsch vorliegen.

Gedichte waren gefährlich

70 Jahre Sowjetunion waren für das russische Geistesleben eine lange Zeit der Isolation, sagt Olga Sedakova, die 1949 in Moskau geboren ist. Bis 1988 konnten ihre Gedichte und Prosa-werke nur im Samisdat erscheinen; zu gefährlich schien den Behörden der wache Geist der Dichterin. Dabei ist die ironische Geißelung der Zustände nur ein kleiner Ausschnitt aus ihrem facettenreichen Werk. In ihrer stillen, naturnahen Lyrik ist ein ganz anderer Ton zu vernehmen:

O wie das Herz sich langweilt, was für ein Unglück!
Du, der Feuer wie ein Ding unter Dinge getan,
wozu hast Du mich gerufen und siehst mich an?
Ich bin nicht die Beste derer, die Du erkannt.
Hab Mitleid
mit diesem armen Leben! hab Mitleid,
dass es sich selber niemals zu lieben verstand,
der Stern zuletzt
uns trägt und trägt wie das Wasser ... *)

Sedakovas Gedichte sind vielfach in einer für die Identifikation weit offenen Ichform geschrieben, in klaren, wagenden Sätzen. Sie lasse sich gewissermaßen keine Hintertür offen, schreibt der derzeit in Wien lehrende Philosoph Sergej Awerinzew in einem Essay über die Dichterin: "Sie gibt ihrem Leser nicht das Gefühl, dass sie mit ihm, dem Dummen, intelligent gespielt hat. Nein, alles ist ernst, die Schiffe sind verbrannt." Sie selbst, als Philologin mit poetischen Programmen bestens vertraut, weigert sich, ein solches Programm für ihr eigenes Schaffen zu formulieren. "Wir sind im 20. Jahrhundert der Programme müde geworden", sagt sie.

Orthodoxe Gläubigkeit und Poesie

Facettenreich wie das Werk erscheint auch die Persönlichkeit der Olga Alexandrowna Sedakova. Von ihrer Großmutter, die sie in ehrender Erinnerung behält, hat sie die Religion gelernt. Sieht man sie in der Kirche, so vermutet man in ihr kaum die große Dichterin und Intellektuelle. Ehrerbietig den Kopf mit einem Tuch verhüllt, wirft sie scheue, fast unterwürfige Blicke auf den Priester, der zugleich ihr "Geistlicher Vater" ist. Mit ihm bespricht sie alles - außer ihre Kunst. Orthodoxe Gläubigkeit und Poesie, das sind zwei Dimensionen ihres Lebens, die ganz ursprünglich zusammengehören und dennoch ihre je eigenen Orte haben.

Ihre Lyrik ist religiös, daran besteht kein Zweifel. Trotzdem würde man ihr mit dem Begriff "religiöse Dichterin", zumal in seiner engeren Bedeutung, nicht gerecht. Denn wie sie einerseits ganz ohne Vorbehalte "geistliches Kind" ihres priesterlichen Begleiters ist, speist sich andererseits ihre Lyrik aus vielen Quellen, nicht nur aus Bibel und kirchlicher Tradition. Wenn sie ihr Tuch ablegt und mit funkelnden Augen über Details des europäischen Geisteslebens referiert, ist sie ganz die Moskauer Philologieprofessorin. Wenn sie mit Freunden und Freundinnen scherzt, hat ihr Lachen noch etwas Kindliches. Wenn sie Gedichte rezitiert, auswendig, dann sind die Augen ins Ferne gerichtet, dann "blättert" sie, freilich anders als die Pskower Wirtin, im "Unsichtbaren". In solchen Momenten merkt auch Scharl, der weiße K-ter und einzige Gefährte in der kleinen Moskauer Stadtwohnung, dass etwas Besonderes geschieht - und drängt sich sanft in den Mittelpunkt.

Auch Johannes Paul II. liest Sedakova

Zu den Lesern Olga Sedakovas zählt seit einigen Jahren auch Papst Johannes Paul II. Bei einem Mittagessen in Rom, in einem Kreis von Gelehrten, der sich dem russischen Philosophen Wladimir Solowjow verpflichtet weiß, hat sie den Papst kennen gelernt. Johannes Paul liest ihre Gedichte mittlerweile im Original und zeigt sich, so die Autorin, sehr angetan von ihrem Werk. Der russisch- orthodoxen Dichterin, die 1998 auch den Solowjow-Preis zugespro-chen erhielt, hat Karol Wojtyla einen Band seiner eigenen Gedichte geschenkt. Mit persönlicher Widmung.

Für Olga Sedakova geht diese Begegnung über ein ökumenisches Signal hinaus. Sie verehrt den Papst nicht nur aus persönlichen Gründen, sondern auch als Patriarchen des lateinischen Westens. Europa, sagt sie, bestehe aus einer byzantinischen und einer lateinischen Tradition, aber es gehöre zusammen. Aleksandr Puschkin, Ureignis aller russischen Dichtung, ist für sie ein europäisches Genie. Wie zur Zeit Puschkins und Peters des Großen - diesen Gedanken findet sie zuerst bei Alexandr Brodskij formuliert - müsse es heute erneut darum gehen, ein Fenster in den Westen, "nach Europa", zu öffnen.

Ohne Berührungsangst zum Westen

Schon früh waren für Olga Sedakova nicht nur die großen russischen Dichter wie Osip Mandelstam oder Welemir Chlebnikow, Anna Achmatowa oder Boris Pasternak maßgebend, sondern auch deren westliche Kolle-gen. Sie lernte Italienisch, um Dante lesen zu können. Sie studierte Deutsch, um Rilke zu verstehen. Beide übersetzte sie ins Russische, ebenso T. S. Eliot, Paul Claudel oder Paul Celan.

Seit es die politische Lage möglich macht, ist Olga Sedakova zu Gastvorlesungen und Vorträgen unterwegs. In den USA, in Südafrika, in England, Schweden, Italien, zuletzt auch in Österreich hat sie gelesen und sich dem Gespräch gestellt. Eine Europäerin eben.

In dem großen Freundeskreis der Olga Alexandrowna finden sich zahlreiche Künstler und Intellektuelle, die ebenso wenig Berührungsangst mit dem Westen kennen. Der bekannte Komponist Aleksandr Chwustin zum Beispiel, dessen Vertonung eines Sedakova-Gedichtes demnächst in Deutschland uraufgeführt wird, oder der Mosaikkünstler Aleksandr Kornuchow, der vor kurzem eine Kapelle des Apostolischen Palastes im Vatikan mitgestaltet hat.

Zum Schreiben allerdings muss Olga das intensive gesellschaftliche Leben Moskaus verlassen. Dann fährt sie aufs Land, an einen zauber-haften Flecken südlich von Moskau namens Azarowka. Dreißig Jahre lang hat sie dort, im Haus ihrer Tante, den Sommer verbracht. Jetzt, nach deren Tod, steht das Haus leer und droht zu verfallen. Aber Olga Seda-kova braucht einen Ort draußen. Sie braucht Zeit und Ruhe, um zu schreiben. Und am Ende ist aus ihrer Sicht jedes vollendete Kunstwerk etwas, das den Menschen, auch den Autor, übersteigt. Etwas, das nicht aus ihm allein kommt.

Ohne Natur könnte sie nicht schreiben. Und die Naturbilder sind zahlreich in ihren Gedichten. Der Regen zum Beispiel wird in einem dem Papst gewidmeten Gedicht zur tiefgründigen Metapher. Es handelt von der Kinderfrau Varja, die nicht verstehen konnte, warum manche die Existenz Gottes leugnen - wo es doch regnet. Jetzt, so das Gedicht, zünden die, die sagten, dass es Gott nicht gibt, Kerzen an und bestellen Gebete.

Die Kinderfrau Varja liegt auf dem Friedhof,
aber der Regen fällt,
groß, reichlich, unübersehbar,
fällt, fällt,
klopft bei niemandem an.

Kein Mittel gegen den Homo cantans

Olga Sedakova zur Eröffnungsrede der diesjährigen Bregenzer Festspiele einzuladen, war eine gute Wahl. Dass heuer in Bregenz die Rimskij-Korsakow-Oper "Der goldene Hahn", deren Libretto auf eines der Märchen Puschkins zurückgeht, auf dem Spiel-plan steht, gibt das Thema vor: die Geschichte vom mächtigen, aber unglücklichen Zaren Dadon. Wem sollte es besser als Olga Sedakova gelingen, zu zeigen, warum die Macht der Mächtigen letztlich gegen die "Macht des Glücks", gegen den Homo cantans, den singenden Menschen, nichts ausrichten kann? Warum alle Zaren der Welt Puschkin nicht verhindern können?

Sie möchte das Fenster nach Europa öffnen. Vielleicht spüren auch hier manche den Luftzug. Oder den Regen, der nicht anklopft.

Der Autor ist Religionsjournalist im ORF-Fernsehen.

*) Auszug aus dem Gedicht: "Die Reise der Heiligen Drei Könige" von Olga Sedakova, Übersetzung von Walter Thümler. Eine Auswahl von Gedichten Sedakovas in deutscher Übersetzung wird im Frühjahr 2001 im Amman-Verlag, Zürich, erscheinen.

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